Dein letztes Jahr
Menschen sind entwickelte Säugetiere, aber schlichte Gemüter. Wenn sie jung sind – und wer ist das heute nicht? –, glauben sie, dass nichts von dem, was sie tun oder lassen, irgendwelche Folgen haben wird. Egal was man macht, es wird schon irgendwie schiefgehen, und das tut es dann auch, wenngleich manchmal mit einiger zeitlicher Verzögerung. Um in der Sprache unserer Zeit zu bleiben: Das ist wenig nachhaltig. Es geht aber noch gröber.
Wenn Leute glauben, dass das, was sie tun oder lassen, keine Folgen haben wird, die auch auf sie selbst zurückfallen, dann denken sie sich das auch von anderen Leuten und der Umwelt, die sie umgibt. Mir macht es nichts aus, deshalb hat es dir auch nichts auszumachen. Es ist eine interessante Variante des Asozialen, die wir dabei immer öfter antreffen. Die Leute leben in einer Glocke, in der die Zeit still steht, sich nichts ändern kann, weil sich nichts ändern darf. Und nichts von dem, was man tut, Folgen hat. Aber die Welt, das sind auch alle anderen. „Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben“, sagte der Autor Philip K. Dick.
Das gilt in Zeiten wie diesen ganz besonders.
Egal was man macht, es wird schon irgendwie schiefgehen, und das tut es dann auch, wenngleich manchmal mit einiger zeitlicher Verzögerung.
Im alten Rom gab es Kaiser, die waren ungeheuer mächtig. So mächtig, dass sie sich die Welt so machten, wie sie ihnen gefiel, und alles andere auch. Die Machthaber neigten zum Größenwahn, was nichts anderes ist als das oben beschriebene Symptom: nichts mehr wissen wollen von dem, was man tut oder lässt und welche Auswirkungen es auf andere hat. Alle Leute, denen man Macht gibt, haben solche Anwandlungen – mehr oder weniger –, dazu müssen sie nicht Donald Trump heißen, aber der ist natürlich heutzutage ein sehr schönes Beispiel dafür. Die alten Römer herrschten alles in allem mehr als zwei Jahrtausende, und ihr Einfluss auf uns ist nach wie vor gewaltig. Das muss man ihnen erst mal nachmachen. Bei allem Ärger, den sie anderen bereiteten, waren sie aber, und das ist ein Unterschied zu heute, in der Lage, sich gelegentlich selbst zu reflektieren. So lief bei Triumphzügen römischer Kaiser ein Sklave hinter dem Herrscher her, hielt einen Lorbeerkranz über dessen Kopf und murmelte ihm unentwegt ins Ohr: „Bedenke, dass du sterblich bist.“
Was, wenn das nächste Jahr Ihr letztes wäre? Nicht dass ich das irgendjemandem wünschen würde, aber das Leben hat nun mal einen Anfang und ein Ende. Auch in der ins Wanken geratenen Konsumgesellschaft reden sich die Leute ein, mehr zu wissen als ein römischer Kaiser. Wenn Sie jetzt schon wüssten, dass das nächste Jahr Ihr letztes ist, was würden Sie tun? Ihre Angelegenheiten ordnen, Ihr Erbe verteilen, Abschiedsbriefe schreiben, alle Online-Dienste und Abos kündigen, alte Freunde wiedersehen, ein Mal noch, jede Stunde mit den Menschen, die Sie lieben, verbringen, sich nichts mehr sagen lassen, von keinem angeblichen Vorgesetzten (m/w/d) der Welt, sich von allem trennen, das Sie immer schon genervt hat, und sich nur mehr auf das konzentrieren, was Sie freut, als Mensch, der weiß, dass er sterblich ist, so wie alles um ihn herum? Ja, das ist kein schlechter Plan. Jedem kleinen und großen römischen Kaiser muss man ständig ins Ohr flüstern, dass er, mit allem Respekt, sterblich ist und dass er dagegen gar nichts tun kann.
Es kann sein, dass manche Leute das für traurig halten, aber dann haben sie es halt nicht zu Ende gedacht. Weil wir wissen, dass wir auf diesem Planeten nur eine begrenzte Zeit haben, sollten wir sie nutzen – carpe diem – und keinen Blödsinn machen, nicht durchdrehen, uns anständig benehmen gegenüber der Welt im Allgemeinen und den Menschen, denen wir begegnen, im Speziellen. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sagte Hermann Hesse, aber wirklich leben, wie es sich gehört, kann man nur, wenn man auch das Ende sieht. Und schätzt, dass alles seine Grenzen hat. Das Gute, das Schlechte, das Kluge, das Dumme. So kann das Denken ans Ende der Anfang vom richtigen Leben sein. „Deine Zeit ist begrenzt, also verschwende sie nicht damit, das Leben eines anderen zu leben.“
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