Ein Höcker ist schöner als zwei

Die Nachrichten von der Spaltung der Gesellschaft sind noch übertrieben – das Dromedar trägt die Mitte.

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„Unsere Gesellschaft ist gespalten.“ Wir kennen diese Überschrift. Den laufenden Beleg dafür liefern unsere Mobiltelefone, deren Bildschirme von Social-Media-Kanälen überschwemmt oder besser unterspült werden. Ihre Geschäftsmodelle bewirtschaften nicht mehr unsere Aufmerksamkeit, sondern unsere Aufregung. Ärger, Wut, Angst, Spott lassen uns schneller klicken und länger lesen. Auch viele traditionelle Medien sind zu Getriebenen auf diesem lauten Verkehrsknotenpunkt geworden. „Schreiben, was klickt“ gilt als Überlebensdevise, und Politik driftet in diesem rutschigen Kanal in Richtung „Emokratie“ (Thomas Hofer).

Bringen diese „Emokratie“ und die Aufregungsökonomie das „Ende der Geschichte“ des liberalen Westens? Nach 1989 hatten wir uns dieses Ende anders vorgestellt. Francis Fukuyama prognostizierte, dass sich Demokratie und Marktwirtschaft endgültig durchgesetzt haben. Heute verbünden sich Autokraten mit Tech-Oligarchen. Die regelbasierte Marktwirtschaft ringt mit systematischem Regelbruch und Monopolisierungsgelüsten der Tech-Oligarchen, die Eigenschaftswörter sozial und öko sind selbst als schmückendes Beiwerk eingemottet.

Ja, „postsoziale“ Medien befeuern die Polarisierung. Doch stimmt der Befund der gesellschaftlichen Spaltung?

Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser fragten 2023 in einer umfangreichen Studie: „Ist Deutschland ein Kamel?“, geprägt von zwei unversöhnlichen „Höckern“? Sie sind schwarz und weiß, stehen für Impfen und Nicht-Impfen, SUV und Lastenrad, inkusiver Sprache und „Das wird man wohl noch sagen dürfen“. Das überraschende Ergebnis ihres Buchs „Triggerpunkte“: Deutschland ist ein Dromedar. Es gibt einen großen Hügel des Konsenses, quasi die Gaußsche Glockenkurve der Werthaltungen in der Mitte unserer Gesellschaft. Ja, die Extreme wachsen, sie sind auch laut, aber der Hügel ist groß und ragt in der erstaunlich progressiven Mitte. Selbst harte Konflikte wie bei Corona, die jeder und jede von uns im privaten und beruflichen Umfeld erlebt hat, werden mit der Zeit im persönlichen Kontakt wieder relativiert. Wir sind versöhnlich, weil wir wissen: Morgen könnten wir bei einem anderen konfliktären Thema auf derselben Seite stehen.

Österreich mag durch längere politische Polarisierung schon zerrütteter sein als Deutschland, aber wir sind weit weg von den „Divided States of America“, wo eine ziemlich scharfe Trennlinie durch alle Lebensbereiche verläuft. Doch ein beruhigtes Zurücksinken ins Sofa wäre verfrüht angesichts der Dynamik. Wenn mir täglich gespiegelt wird, es gäbe nur Schwarz oder Weiß, nur Lastenrad mit Zeigefinger oder Bleifuß mit Stinkefinger, werde ich mich irgendwann für eine Seite entscheiden. So formen wir selbst aus dem Dromedar ein „Kamel“.

Wir werden nicht als Demokraten geboren, aber wenn wir Glück haben, werden wir in eine Demokratie geboren und können sie uns zu eigen machen. Dazu brauchen wir die Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen. Wir brauchen Fakten und Analyse, um uns selbst eine bilden zu können. Wir brauchen Menschen, die gut argumentiert Positionen beziehen, die gerade nicht die unseren sind. Nur so können wir unsere eigenen schärfen. Deshalb braucht es unabhängigen Journalismus und breiten

Zugang zu qualitätvollen Medien. Studien zeigen: Wo Medienwüsten entstehen, wachsen Verschwörungstheorien, Korruption, Extremismus. Noch sind wir auch hier von US-Verhältnissen entfernt, doch die Versteppung schreitet voran.

Wenn Sie also diese Zeilen lesen, das profil gekauft oder gar abonniert haben, stärken Sie mittelbar den gemeinsamen Hügel. Wenn Sie diese gute, aber nicht beruhigende Nachricht als Aufforderung verstehen wollen: Mit jedem digitalen Abo eines Mediums unterstützten sie unabhängige Journalisten darin, mit ihrer Arbeit auch die neuen Kanäle zu Orten der Aufklärung zu machen. Das Dromedar zwinkert verschmitzt und sagt danke.

Stefan Wallner

Stefan Wallner

war Generalsekretär der Caritas Österreich und von 2009 bis 2016 Generalsekretär der Grünen. Danach war er bis 2020 Head of Brand Management and Company Transformation bei der Erste Group. Heute ist er Geschäftsführer des Bündnis für Gemeinnützigkeit – der 2022 gegründeten Interessenvertretung des gemeinnützigen Sektors und der Freiwilligenorganisationen.