Kolumne

KriegTok: Soziale Medien zeigen ihre schlimmste Seite

In Kriegszeiten werden schreckliche Aufnahmen zur Normalität – und wir alle sind involviert in den Kampf um die Deutungshoheit.

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Etwas hat sich verändert in den vergangenen Jahren: Das weltweit digital vernetzte Publikum ist Teil der neuen Terror- und Kriegslogik geworden. In meinen Augen wurde aktuell sogar ein neues Ausmaß erreicht. Mir selbst sind seit dem mörderischen Terroranschlag der Hamas und der darauffolgenden militärischen Offensive Israels ungeheuer viele aufwühlende Aufnahmen auf TikTok und X untergekommen, die Gewalt und Leichen abbilden. Dieser erschütternde Trend ist nicht neu, wurde aber immer sichtbarer: Seit Jahren schon arbeiten terroristische Organisation wie einst der selbsternannte „Islamische Staat“ und nun die Hamas damit, ihren Terror live zu streamen. Vielfach wurde berichtet, wie Terroristen der Hamas nicht nur Zivilist:innen misshandelten und ermordeten, sondern Aufnahmen davon auf den Social-Media-Profilen ihrer Opfer verbreiteten. „Das Ziel ist, ein Gefühl der Hilflosigkeit, Paralyse und Erniedrigung auszulösen“, erklärt der Sicherheitsanalyst Michael Horowitz von der Beratungsfirma Le Beck International im Magazin „Barron’s“. Es gibt also den Versuch, den Terror über Social Media zu intensivieren. In weiterer Folge lässt sich im Konflikt zwischen Hamas und Israel beobachten, dass in unseren Feeds auch ein Kampf um die Deutungshoheit stattfindet: Auch Accounts des israelischen Staates verbreiten erschütterndes Bildmaterial, um mit der Darstellung der Gräueltaten der Hamas Solidarität mit der israelischen Bevölkerung sowie ein Verständnis für die Militäroffensive Israels zu wecken. Gleichzeitig kursieren viele schreckliche Aufnahmen von Bombardierungen, die das Leid der Menschen im Gaza-Streifen in den Vordergrund stellen.

Für viele Internetnutzer:innen ist diese Medialisierung der Auseinandersetzung eine schreckliche Entwicklung, denn sie bedeutet, dass in ihren Feeds ohne Vorwarnung ärgstes Kriegsmaterial landet. Auf TikTok zum Beispiel starten Videos automatisch und man kann das Autoplay nicht ausschalten – gerade dort werden viele Kinder und Jugendliche mit Bildern voller Gewalt konfrontiert. Sicher: Terror und Krieg brachten schon früher schreckliche Szenen hervor. Heutzutage aber findet in vielen Fällen der Kontakt mit solchen Bildern nicht nach einer journalistischen Abwägung statt, welches Material gesellschaftlich relevant und dem Publikum zumutbar ist, sondern gemäß der Logik von Social-Media-Algorithmen. Im Vietnamkrieg war das berühmte Foto des „Napalm Girl“ wichtig, jenes nackten Mädchens, das Napalmbomben des US-Militärs schwer verletzt hatten. Dieses Foto ist echt, der Pressefotograf Nick Út hat es aufgenommen – und es stärkte die Friedensbewegung. Würde der Vietnamkrieg heute stattfinden, bestünde die Gefahr, dass die Aufnahme des „Napalm Girl“ medial untergeht, inmitten all der anderen grässlichen Fotos (teils real, teils erfunden), die die Runde machen. Die aktuelle Bilderflut mag sich für manche Internetnutzer:innen anfühlen, als wären sie gut informiert, aber das Gegenteil ist der Fall. Zum Beispiel kursieren viele Fotos von angeblich getöteten Kindern im Gaza-Streifen – und dann stellt sich heraus, dass manch eine Aufnahme jahrealt ist und in Wahrheit aus Syrien stammt. Eine Reaktion auf die Reizüberflutung kann auch darin bestehen, dass Menschen insbesondere dorthin schauen, wo sie in ihrer Meinung bestätigt werden. Dazu eine Anekdote: Auf TikTok wurde mir ein Video von einer Pro-Palästina-Demo in Wien angezeigt. Ich habe es bewusst relativ lange angesehen, weil ich testen wollte, wie der Algorithmus reagiert. Beim nächsten Öffnen der App sah ich noch mehr Pro-Palästina-Demos aus ganz Europa. Und seitdem ich diese Videos ansah, ist mein Feed voll von Kriegsaufnahmen, von Kindern, die verletzt worden sind, von einem Kleinkind, das weinend durch eine bombardierte Straße läuft und nach seiner Mutter ruft. Selbst mir fehlt die Zeit, die Echtheit all dieser Bilder zu überprüfen, es sind zu viele. Ich fürchte, dass manche Jugendliche ähnliche Aufnahmen wie ich in ihren Feeds sehen – und dass das antisemitische Gefühle nährt. Meine „For you“-Page auf TikTok ist voll mit angeblichen Kinderleichen im Gaza-Streifen, aber vergleichsweise wenig lerne ich dort darüber, was die Hamas israelischen Zivilist:innen angetan hat.

Was tun? Wir müssen als Gesellschaft gegensteuern: Das heißt erstens, in Schulen die inhaltliche Aufklärung über Themen wie den Nahost-Konflikt und Antisemitismus fördern. Ebenso ist es dort sinnvoll, die medialen Mechanismen von Social-Media-Apps zu besprechen – dass zum Beispiel emotionalisierende Inhalte oft eine größere Reichweite erzielen (und gerade Propaganda sowie Kriegsaufnahmen sind stark emotionalisierend). Man kann zweitens selbst daran arbeiten, sich der Bilderflut ein stückweit zu entziehen. Zum Beispiel kann man sich vornehmen, an besonders schlimmen Tagen des Krieges nicht auf gewisse Plattformen zu sehen oder nur kurz und mit viel Zeit für Selbstreflexion. Es ist übrigens gut, dass nun auch die EU-Kommission kritisch auf Plattformen wie X und TikTok blickt. Politisch und individuell müssen wir dazulernen: Denn ich fürchte, diese Mischung aus Krieg und einer weiten Verbreitung von Smartphones und Social Media bleibt uns in den nächsten Jahren erhalten.

Ingrid   Brodnig

Ingrid Brodnig

ist Kolumnistin des Nachrichtenmagazin profil. Ihr Schwerpunkt ist die Digitalisierung und wie sich diese auf uns alle auswirkt.