Martin Staudinger: Wir Verwirrten

Am Fall Köln ist nicht nur der Massenmissbrauch verstörend, sondern auch die Debatte darüber: Sie zeigt, wie sehr uns die neue Krisenrealität überfordert.

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Können Sie sich noch erinnern? In der Nacht zum 1. Jänner 2016 kam es auf dem Gelände des Hauptbahnhofs Köln zu massiven Übergriffen auf Frauen. Alkoholisierte junge Männer mit vorwiegend arabischem Migrationshintergrund kesselten Passantinnen ein, bedrängten, begrapschten, bestahlen und beraubten sie – und hinderten zu Hilfe gerufene Polizeibeamte gezielt daran einzugreifen. In den Tagen danach wurden an die 100 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs und zwei wegen Vergewaltigung erstattet.

Sie können sich tatsächlich noch daran erinnern? Das ist fast ein Wunder, weil der eigentliche Anlassfall inzwischen fast völlig in Vergessenheit geraten ist – und das, obwohl über Köln und die Folgen heftig und flächendeckend diskutiert wird.

Besser gesagt: eigentlich gar nicht so sehr über Köln. Auf der einen Seite wird wütend angeprangert, wer aller seine dumpf-rassistische Grundhaltung und seine Ignoranz gegenüber dem ganz alltäglichen, autochthonen Sexismus durch Hinweise auf die Herkunft der mutmaßlichen Täter bewiesen hat. Auf der anderen Seite wird darüber sinniert, dass man möglichst alle Flüchtlinge sofort abschieben, bei der Verfolgung der Verdächtigen auf den Rechtsstaat pfeifen und Angela Merkel für ihre Politik lieber heute als morgen aufhängen sollte. Deutsche Medien wiederum schafften es, den massenhaften Missbrauch in der Neujahrsnacht binnen weniger Tage zum Polizeiskandal umzudeuten.

Im Flüchtlingsthema kulminieren die Verunsicherungen der jüngsten Vergangenheit.

Die Art und Weise, wie die Debatte, abgesehen von wenigen klugen Beiträgen, geführt wurde und wird, ist nicht weniger verstörend als der Anlassfall selbst. Sie zeigt letztlich, wie überfordert wir alle mit der neuen Krisenrealität sind – weniger real als vor allem psychologisch und emotional. Griechenland, Austerität, Ukraine: Im Thema Flüchtlinge kulminieren die Verunsicherungen und Konflikte der jüngsten Vergangenheit. Waren die Bedrohungen bislang vor allem diffus, scheinen sie nun, wenngleich sehr punktuell, konkret bei uns angekommen und sogar körperlich erfahrbar zu sein.

Wir Verwirrten: Das Koordinatensystem, anhand dessen wir bislang benennen und einschätzen konnten, was gerade vor sich geht, hat sich bis zur Unbrauchbarkeit verzerrt. Auch das lässt sich am Beispiel Köln wunderbar zeigen. Ist es ausländerfeindlich, nach Dutzenden Zeugenaussagen, die übereinstimmend von Übergriffen arabisch und französisch sprechender Männer berichten, auch ohne zweifelsfreie Personenidentifizierung einen Migrationshintergrund der Verdächtigen zu konstatieren?

Ist es naiv, zu fürchten, dass diese Tatsache über den konkreten Fall hinaus von einem aggressiven rechten Potenzial missbraucht werden könnte?

Ist es rassistisch, einen Zusammenhang zwischen dem archaischen Frauenbild und der verkorksten Sexualmoral in den Gesellschaften, aus denen die mutmaßlichen Täter stammen, und den sexuellen Attacken herzustellen?

Ist es verharmlosend, darauf hinzuweisen, dass es auch in der hiesigen Gesellschaft eine Vielzahl sexueller Übergriffe auf Frauen gibt und die Wahrnehmung der Vorfälle von Köln teilweise auch mit Vorurteilen gegen Zuwanderer zusammenhängt?

Ist es scharfmacherisch, einzuwenden, dass die Vorfälle in Köln weit über das hinausgehen, was von Veranstaltungen wie dem Oktoberfest und anderen Massenaufläufen bekannt ist?

Ist es relativistisch, zu entgegnen, dass an den Übergriffen – so bestürzend sie sein mögen – nur einige wenige der Millionen Flüchtlinge und Migranten beteiligt waren, die in den vergangenen Monaten und Jahren nach Europa gekommen sind?

Ist es rechtspopulistisch, angesichts des zuletzt extrem gestiegenen Zustroms alleinstehender junger Männer aus dem arabischen und afrikanischen Raum besorgt zu sein, dass sich Vorfälle wie in Köln wiederholen könnten – und auf eine generalpräventive Reaktion des Rechtsstaats zu hoffen, die das zu verhindern hilft?

Ist es blauäugig, darauf zu pochen, dass dieser Rechtsstaat seine Grenzen einhalten muss, weil er sonst seine Berechtigung verliert?

Ist es ein linkes Ablenkungsmanöver, angesichts von 800 Anschlägen auf Asylunterkünfte in Deutschland die Gewalt, die von den Rechten ausgeht, der unvergleichlich geringeren Ausländergewalt gegenüberzustellen?

Ist es reaktionär, das für eine unzulässige Aufrechnung zu halten, die nichts daran ändert, dass die Übergriffe in der Kölner Neujahrsnacht nicht nur als solche, sondern auch darüber hinaus Anlass zur Besorgnis geben? Weder. Noch.

Trotzdem werden unliebsame Meinungsäußerungen mit genau diesen Verunglimpfungen weggelächelt oder weggekeift, gerne auch unter inhaltlichen Entstellungen durch böswillige Verdrehungen, bewusste Fehlinterpretationen und gezielte Auslassungen. Das funktioniert vom Hochsitz der moralischen Selbstgefälligkeit herab genauso wie aus dem Schützengraben der Vorurteilslust heraus.

Ist ja viel einfacher und weniger riskant für die Gewissheit der eigenen Verortung, als das zu tun, was wirklich nötig wäre: über Ursachen der Attacken von Köln und Schlussfolgerungen daraus oder gar Lösungsansätze nachzudenken. Falls sich inzwischen überhaupt noch irgendjemand an den konkreten Anlassfall erinnert.