Martin Staudinger: Zuerst einmal mit Merkel abrechnen

Zur Frage, wie Flüchtlinge von Europa fernzuhalten sind, fällt uns jede Menge ein – zur Auslöschung von Aleppo hingegen nichts. Aber das kommt schon noch, versprochen!

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Neuerdings sind wir ja die Avantgarde der europäischen Asyl- und Zuwanderungspolitik: Außenminister Sebastian Kurz geht mutig voran, flankiert von seinen Kollegen Hans Peter Doskozil (Verteidigung) und Wolfgang Sobotka (Inneres). Manchmal kehrt einer der Herren bei einer deutschen Talkshow oder einer Zeitungsredaktion ein, um ein bisschen an Angela Merkel herumzumäkeln und ihr vorzuwerfen, sie habe alles verbockt. Erspähen die drei hinter einem Gartenzaun Viktor Orbán, winken sie ihm freundlich zu, und er winkt zurück. Und wenn sie an der Visegrád-Gruppe vorbeikommen, können sie sich der Einladungen, doch schnell mal beizutreten, kaum erwehren.

Das ist kein Wunder, denn schließlich haben wir dem Rest der EU in der Flüchtlingskrise den Weg gewiesen: Balkanroute schließen, EU-Außengrenzen sichern und gleichzeitig die Fluchtursachen bekämpfen. Gerade, wenn es darum geht, Letzteres zu fordern, sind wir ganz vorne dabei. „Hilfe an Ort und Stelle“ ist inzwischen so etwas wie unser zweiter Vorname.

An Gelegenheiten, sich dabei unter Beweis zu stellen, herrscht kein Mangel – besonders in Syrien. Dort wird an der Stadt Aleppo gerade das wahrscheinlich größte Kriegsverbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begangen: unter Mittäterschaft eines Mitglieds des UN-Sicherheitsrats und noch dazu mit mehr oder weniger stillschweigender Duldung der internationalen Staatengemeinschaft.

Wer Aleppo nicht in Friedenszeiten erlebt hat, kann schwerlich eine Vorstellung für die Dimension seiner Tragödie entwickeln. Es ist eine Millionenstadt, nur unwesentliche kleiner als Wien, aber ebenso vital und mit weitaus mehr Geschichte; mit uralten Baudenkmälern, einem geschäftigen Basar und einer trotz der Gewaltherrschaft des syrischen Regimes lebensfrohen Bevölkerung.

Inzwischen liegen große Teile Aleppos in Schutt und Asche. Eine Allianz aus syrischen Regimetruppen und russischen Streitkräften macht mit Artillerie- und Luftangriffen auf den Osten der Stadt ein Viertel nach dem anderen platt. 275.000 Zivilisten sind eingekesselt und vegetieren in den Ruinen ohne Wasser und Nahrung dahin.

Man kann mit gutem Recht sagen: Was in Aleppo geschieht, ist eine Schande für die gesamte Menschheit.

Krankenhäuser werden gezielt zerstört, Schwerstverletzte – darunter auch zahllose Kinder – sterben ohne medizinische Versorgung unter elendigsten Bedingungen. Sollte die Militäroffensive nicht gestoppt werden, sei bis Weihnachten mit der völligen Zerstörung des Ostteils von Aleppo zu rechnen, warnt Staffan de Mistura, Sondergesandter der Vereinten Nationen für Syrien.

Man kann durchaus Gründe und vielleicht sogar einige Entschuldigungen finden, warum es so weit kommen konnte. Der Syrien-Konflikt ist so kompliziert wie kein anderer in der jüngeren Vergangenheit, seine Vorgeschichte – beginnend mit der westlichen Invasion im Irak – fatal, seine Abhängigkeit von externen Faktoren wie dem Kräftemessen zwischen Russland und Amerika bis hin zur US-Präsidentschaftswahl zusätzlich toxisch.

Man kann mit gutem Recht (und durchaus angemessenem Pathos) aber auch einfach sagen: Was in Aleppo geschieht, ist eine Schande für die gesamte Menschheit.

Und was geht uns das an? Angesichts der Rolle, die wir in der europäischen Asyl- und Zuwanderungspolitik für uns in Anspruch nehmen, doch ein bisschen was. Immerhin lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass eine Rückeroberung von Aleppo durch die Regimetruppen in absehbarer Zukunft eine neue Fluchtwelle auslösen wird – und in dieser Situation sollte uns als Avantgarde von eigenen Gnaden eigentlich mehr einfallen als rituelle Selbsterhöhung gegenüber den behaupteten Fehlern von Angela Merkel.

Aber irgendwie ist es, was Syrien betrifft, merkwürdig still in unserem Regierungsviertel. Die viel zitierten Bemühungen um „Hilfe an Ort und Stelle“ beschränken sich bislang darauf, dass der Auslandskatastrophenfonds um 15 Millionen Euro aufgestockt wurde und das Budget für Entwicklungszusammenarbeit bis 2021 auf 154 Millionen Euro verdoppelt werden soll. Klingt gut – aber nur, wenn man außer Acht lässt, dass diese Summen nicht nur für Syrien bestimmt sind, sondern für Krisengebiete in aller Welt; und wenn man ausblendet, auf welch mickriges Niveau die Republik Beiträge in diesem Bereich in den vergangenen Jahren heruntergespart hat. Abgesehen davon wäre noch unsere Rolle als Gastgeber für einige Runden von Syrien-Gesprächen zu nennen. Das war es aber auch schon.

Diplomatische Initiativen, Tüfteln an Lösungsansätzen, Vermittlungsversuche oder ähnliche Aktivitäten? Falls irgendwo österreichische Friedensbemühungen in Gang sind, halten wir sie erfolgreich geheim.

Ein Wort zur Kriegsführung von Syriens Diktator Bashar al-Assad? Oder zur Rolle von Wladimir Putin, der in Aleppo aus polit- und militärstrategischem Eigennutz den Tod Zehntausender Zivilisten in Kauf nimmt? Müssen wir sehr leise gesprochen haben – gehört hat es jedenfalls niemand.

Aber all das kommt schon noch, wenn wir endgültig mit Angela Merkel abgerechnet haben. Dann kümmern wir uns um den Rest. Versprochen!

[email protected] Twitter: @martstaudinger