Robert Treichler
Robert Treichler

Nein, wir schreiben nicht 2015

Migranten leiden an der polnisch-belarussischen Grenze, weil sich Europa nicht von einem Trauma lösen kann.

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2015 amtierte Werner Faymann als österreichischer Bundeskanzler, „Reality“ von der Band Lost Frequencies & Janieck Devy war der Hit des Sommers, und Amazon brachte den ersten Smart Speaker auf den Markt, der auf den Namen „Alexa“ hörte. Ach, ist das lange her, nicht? Ja, ist es, und seither ist viel passiert, aber 2015 will uns nicht loslassen. Oder besser: Manche können sich nicht vom Trauma lösen, das in jenem Jahr Europa gebeutelt hat: die Migrationskrise. Wann immer seither irgendwo Flüchtlinge oder Migranten auftauchen – und es brauchen gar nicht besonders viele zu sein –, verfallen Regierungen und Teile der Öffentlichkeit in Panik: 2015 wiederholt sich!

Jetzt gerade ist es wieder einmal so weit. Ein paar Tausend Migranten – die Schätzungen schwanken zwischen 4000 und 8000 – stecken an der Grenze von Belarus zu Polen fest. Alexander Lukaschenko, der autoritäre Präsident von Belarus, hat sie dorthin bringen lassen, in widerwärtiger Absicht. Er will zeigen, dass die Europäische Union an ihrer Außengrenze ihre wahre, böse Fratze zeigt, niemanden reinlässt und all ihr Gerede von Menschenrechten selbst Lügen straft.

Was macht Polens Regierung? Genau das. Sie demonstriert Härte, lässt niemanden rein, und so sind mindestens zehn Menschen bereits in der Kälte gestorben. Man würde erwarten, dass die Europäische Union von Polen verlangt, die humanitäre Krise zu beenden und die Migranten ins Land zu lassen, um sie zu versorgen. Doch nein, EU-Ratspräsident Charles Michel sichert Polen Unterstützung zu und bringt die Möglichkeit EU-finanzierter Sperranlagen ins Spiel. Und kaum ein Kommentar, kaum eine Stellungnahme kommen ohne den düsteren Hinweis auf das Jahr 2015 aus. „Sie wissen schon“, wird geraunt, „das darf sich nicht wiederholen!“

Wie bitte?

Die Europäische Union, Wirtschaftsraum und politische Heimat von 450 Millionen Menschen, geht in die Knie, weil ein paar Tausend Leute an der Grenze stehen? Wir, EU-Bürgerinnen und -Bürger, lassen uns vom Potentaten eines unbedeutenden Landes vorführen, weil wir uns davor fürchten, dass sich eine Krise wiederholen könnte?
Zur Einordnung: 2015 brachte eine Fluchtbewegung

1,3 Millionen Asylwerber aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Herkunftsländern nach Europa. Das überforderte den Kontinent politisch, logistisch und emotional. Bald etablierte sich ein weitgehender Konsens, dass Migrationsströme nicht noch einmal unkontrolliert und über offene Grenzen auf das Gebiet der EU kommen dürften.
Es passierte seither auch nicht mehr. Die Zahl der Migranten, die pro Jahr die EU erreichen, hat sich auf etwa 100.000 eingependelt. Zum Vergleich: An der Grenze zwischen Mexiko und den USA wurden innerhalb von zwölf Monaten rund 1,6 Millionen Aufgriffe verzeichnet (wobei eine Person, die mehrmals aufgegriffen wird, jedes Mal gezählt wird).

Die Europäische Union  geht in die Knie, weil ein paar Tausend Leute an der Grenze stehen?

1,6 Millionen sind für die USA ein ernsthaftes Problem, 8000 sind für die EU kein Problem – außer sie macht eines daraus. Es sind Panik und Hysterie und auch nationales Denken, die es Europa verunmöglichen, pragmatisch an die Sache heranzugehen. Ein paar Tausend Migranten zu versorgen und ihre Asylanträge zu bearbeiten, wäre für die Union ein Leichtes, wenn sie sich auf eine gemeinsame Politik in dieser Frage geeinigt hätte.

Stattdessen beharrt jedes Land auf seiner nationalen Souveränität, und so schaffen es die einzelnen Regierungen, kollektive Unfähigkeit herzustellen. Argumentiert wird auf der Basis von Trugschlüssen: Wenn man Asylwerber in Europa verteilt, zieht das eine neue Flüchtlingswelle wie die von 2015 nach sich. Das ist falsch. Immer wieder wurden Migranten in den vergangenen Jahren auf willige EU-Länder verteilt: Die Geretteten der Schiffe „Alan Kurdi“, „Eleonore“ oder „Ocean Viking“ wurden allesamt in EU-Staaten gebracht, ebenso wie Migranten aus den überfüllten Lagern der griechischen Inseln. Hat das – wie jedes einzelne Mal düster heraufbeschworen  –  eine neue Flüchtlingswelle nach sich gezogen? Nein.

Dazu kommt, dass das Recht auf ein Asylverfahren nicht bedeutet, dass die Migranten hierbleiben dürfen. Die Mehrzahl der Menschen, die an der polnisch-belarussischen Grenze festhängen, dürfte aus den kurdischen Gebieten im Nordirak kommen. Dorthin kann man sie auch per Rückführung abschieben, wenn über ihren Asylantrag negativ entschieden wird. Der Rechnungshof der EU hat kürzlich in einem Sonderbericht kritisiert, dass zu wenige dieser Rückführungen gelingen – auch hier wäre ein gemeinsames Vorgehen sinnvoll.

Können die nationalen Regierungen gar nicht anders handeln, weil die Bevölkerung ihrerseits panisch auf Migranten reagiert? Das ist eine Ausrede. Die österreichische Bundesregierung etwa könnte die Bürgerinnen und Bürger darüber informieren, wie hoch die Zahlen der Asylwerber tatsächlich sind. In diesem Jahr etwa wurden bisher knapp 23.000 gezählt, im vergangenen waren es gar nur 9800, davor jeweils weniger als 15.000. Kein Vergleich mit den 90.000 des Jahres 2015.

2015 ist vorbei; und vor allem ist es keine Rechtfertigung dafür, Familien mit Kindern in den Wäldern an der polnisch-belarussischen Grenze sterben zu lassen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur