Neutralität: Nie wieder immerwährend

Die Neutralität bringt immer deutlicher das Miese an unserer Identität hervor.

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Nichts ist so lebendig wie eine von höchster Stelle beendete Diskussion. Als Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im Mai des vergangenen Jahres die aufkeimende Debatte über die österreichische Neutralität mit dem Satz „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, und Österreich bleibt neutral – damit ist für mich die Diskussion beendet“ abzuwürgen versuchte, fachte er diese gegen seinen Willen erst so richtig an. Ein Jahr später ist die Republik zwar unverändert immerwährend neutral, allerdings kriegen sich die politischen Player immer wieder in die Haare, wenn sich in konkreten Fällen die Frage stellt, was „neutral“ bedeutet.

Die Befürworter der Neutralität haben bisher immer einen Trumpf in der Hand: die öffentliche Meinung. Laut einer Gallup-Umfrage von vergangenem Monat will eine deutliche Mehrheit von 77 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher an der Neutralität festhalten. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) formuliert es in einem „ZiB-2“-Interview so: „Die Neutralität ist identitätsstiftend für Österreich.“

Damit hat Edtstadler wohl Recht. Die Frage ist: Um welche Teile unserer Identität handelt es sich da?

Gern wird die Formel wiederholt, unsere Neutralität bewirke, dass Österreich friedensstiftend sei, aktiv an Konfliktlösungen beteiligt und gleichzeitig wehrhaft. Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein, und spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wissen wir: Es ist auch nicht wahr.

All die anrührend sanften Charaktereigenschaften, die das Image der Neutralität behübschen, haben nichts mit der Realität zu tun. (Nebenbei: die Wehrhaftigkeit auch nicht. Die Budgeterhöhung für das Bundesheer kann im besten Fall die tiefsten Löcher stopfen.) Die vergangenen eineinhalb Jahre haben gezeigt, welche jämmerlichen Haltungen die Neutralität befördert. Sie ermöglicht es, zu sinnvoller Hilfe für die um ihre Existenz kämpfende Ukraine Nein zu sagen; sie dient als Rechtfertigung dafür, den Präsidenten der Ukraine zu brüskieren; sie macht nachvollziehbar, weshalb Österreich bei seinen Geschäftsbeziehungen von Skrupellosigkeit geleitet ist.

Die peinlichen Vorfälle im Detail: Vergangene Woche argumentierte Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, weshalb das österreichische Bundesheer die Ukraine bei der Entminung nicht unterstützen könne. Es gäbe keine Garantie dafür, so die Ministerin, dass Minenräumungen „nicht durch Kriegsteilnehmer genutzt werden, um einen strategischen Angriff zu starten, weil die Wege wieder sicherer befahrbar“ seien. Sie werde „keine Involvierung österreichischer Soldaten, wenn auch nur indirekt, in Kriegshandlungen riskieren“, sagte Tanner und berief sich bei ihrer Entscheidung explizit auf die Neutralität. Bundespräsident Alexander Van der Bellen wies zwar darauf hin, dass die Entminung ziviler Bereiche wie Wohnhäuser, Schulen oder landwirtschaftlicher Gebiete „sicher nicht“ der österreichischen Neutralität widerspreche. Doch vergeblich. Österreich ist neutral, tödliche Minen unschädlich machen sollen andere.

Selbstverständlich kriegte die Ukraine von Tanner auch im Februar eine Abfuhr, als es darum ging, ukrainische Soldaten am Kampfpanzer Leopard 2 auszubilden. Begründung: die Neutralität.

Als der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj im März per Videostream eine Rede im Parlament hielt, musste er zur Kenntnis nehmen, wie die Neutralität von österreichischen Abgeordneten interpretiert wird. Die Mehrheit der SPÖ-Mandatare fehlte, und alle FPÖ-Vertreter verließen demonstrativ den Saal und hinterließen auf ihren Plätzen Tafeln, unter anderem mit der Aufschrift: „Platz für Neutralität“.

Die Werte-elastisch-neutrale Haltung führt auch dazu, dass die teilstaatliche OMV 2018 dank der Schirmherrschaft der Bundesregierung kein Problem damit hatte, in Anwesenheit von Wladimir Putin mit dem russischen Gaskonzern Gazprom einen unkündbaren Liefervertrag bis 2040 abzuschließen.

So sieht die wahre Motivlage der Neutralität im Jahr 2023 aus. Österreich fragt nicht, was trotz Neutralität an Hilfe möglich ist (die Ausbildung von Panzerfahrern etwa wäre laut Völkerrechtlern unproblematisch), sondern Österreich benutzt die Neutralität als willkommenen Vorwand, um sich aus allem rauszuhalten, was unangenehm sein könnte. Der Verweis auf Hilfe, die wir dennoch leisten, ändert daran gar nichts. Ja, Österreich setzt bei EU-Abstimmungen über Militärhilfe für die Ukraine das Instrument der konstruktiven Enthaltung ein, und die Regierung beteiligt sich an den Sanktionen gegen Russland. Aber die neutrale Republik ist nicht bereit, alles zu tun, was innerhalb der Grenzen des Verfassungsgesetzes von 1955 möglich ist.

Neutral zu sein heißt im geübten, österreichischen Verständnis, bei Bedarf die Option zu ziehen, die kalte Schulter zu zeigen; mit dem Hinweis auf undefinierte – angebliche - verfassungsrechtliche Zwänge, angefeuert von einer FPÖ, die ihre pro-russische Schlagseite als Äquidistanz zu verkaufen versucht.

Das ist mies.

Sollten diese Aspekte unserer Neutralität tatsächlich identitätsstiftend sein, dann haben wir als Republik ein schauriges Identitätsproblem.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur