Peter Michael Lingens: Deutschland, ein Jahrhundert-Märchen

Peter Michael Lingens: Deutschland, ein Jahrhundert-Märchen

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Es gibt zwar nicht Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“, aber es gibt nachhaltigen Fortschritt: Dass aus einem Land, aus dem die Menschen noch vor 75 Jahren flohen, um mörderischer Menschenverachtung zu entgehen, ein Land geworden ist, in das sie fliehen, weil es die Menschenwürde wie kein anderes respektiert, ist ein Jahrhundert-Märchen. Das vielleicht eindrucksvollste der Weltgeschichte: Zwei Weltkriege und sechs Millionen Morde hindurch war Deutschland die düsterste Großmacht des Erdballs – seit nunmehr 70 Jahren ist es die Großmacht, die mehr politische Klugheit, mehr Prosperität und mehr Humanität als jede andere auf sich vereint.

Es gibt dafür eine offenkundige Ursache: Die so ausführliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – sei es im Wege alliierter „Umerziehung“, sei es im Wege aufklärender Schulbücher, Zeitungsberichte oder Filme, sei es im Wege der Vorbildwirkung großer Kanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl – hat die Deutschen wie kein anderes Volk politisch gebildet: Sie haben „Menschenrechte“, „Rechtsstaatlichkeit“, „Toleranz“ und „Schutz des Lebens“ mehr als andere schätzen gelernt. Das deutsche Demokratieverständnis ist heute ein angloamerikanisches in seiner besten Ausformung. Das deutsche Grundgesetz ist ein Jahrhundert-Werk.

Mit Ludwig Erhard haben die Deutschen erfolgreicher als andere das Modell einer sozialen Marktwirtschaft von den Skandinaviern übernommen und optimiert. Und nach einer angemessenen Zeit außenpolitischer Zurückhaltung haben Deutschlands Kanzler aus ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik auch genügend Selbstbewusstsein für eine erfolgreiche Außenpolitik gewonnen: Willy Brandts Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, Helmut Schmidts Einsatz für den NATO-Doppelbeschluss, Gerhard Schröders Weigerung, in den Irak-Krieg zu ziehen, sind Marksteine dieser Entwicklung. Dass Angela Merkel trotz internen ­Widerstandes auf Sanktionen gegen Wladimir Putins neuen Imperialismus besteht, setzt sie würdig fort.

Deutschland hat in ihr zweifellos eine Jahrhundert- Kanzlerin: Ihre „Energiewende“ wird sich trotz aller aktuellen Probleme als zukunftsweisend herausstellen; und ihre Wende in der Flüchtlingspolitik – „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ – ist eine Jahrhundert-Leistung.

Erste Voraussetzung dafür war die beschriebene Haltung der Bevölkerung. Ich kann mir derzeit kein anderes Volk vorstellen, das angesichts 800.000 für 2015 prophezeiter Flüchtlinge zu zwei Dritteln die Ansicht vertritt, dass die Aufnahme von Flüchtlingen „in der bisherigen Zahl“ vertretbar ist. Zweite Voraussetzung war der Schulterschluss aller großen Parteien von der CDU bis zur „Linken“: Er degradiert NPD und AfD und selbst brennende Flüchtlingsheime zu Randerscheinungen.

Dritte Voraussetzung waren ebenso intelligente wie anständige Wirtschaftsführer: Wolfgang Schäuble, der klarstellt, dass Deutschland die Integration der Flüchtlinge selbstverständlich „schaffen kann“. Der Präsident der deutschen Industrie Ulrich Grillo, der klarstellt, dass Deutschlands Wirtschaft „dringend Zuwanderung braucht“. Oder Mercedes-Lenker Dieter Zetsche, der in Flüchtlingslagern bereits nach tüchtigen Mitarbeitern sucht.

Deutschlands Bevölkerung schrumpft ohne Zuwanderung bis 2050 von 84 auf maximal 74 Millionen: Wenn es jetzt Millionen teils schon ausgebildeter, durchwegs nach Arbeit dürstender Syrer aufnimmt, ist das nur ein besonders sinnvoller Beitrag zur Lösung dieses demografischen Problems. Alle hier genannten Gründe für die so positive Entwicklung Deutschlands machen klar, warum Österreich nicht ganz Schritt halten kann:

- Die „Vergangenheit“ wurde hier nie im deutschen Ausmaß diskutiert. Ausgerechnet der größte Kanzler, Bruno Kreisky, trug sogar zu ihrer Verharmlosung bei.

- Deutschlands größte Boulevardzeitung „Bild“ überschritt zwar oft journalistische, nie aber politische Anstandsgrenzen – Österreichs relativ noch viel größere „Kronen Zeitung“ pflegt wie die FPÖ das gesunde Volksempfinden.

- Nicht zuletzt deshalb haben wir statt einer winzigen NPD in der FPÖ die größte extrem rechte Partei Europas. An diesen Voraussetzungen gemessen ist die weiterhin hochanständige Haltung der österreichischen Zivilgesellschaft fast ein Wunder.

PS: Wer diese Kolumne öfter liest, wird mir entgegenhalten, dass ich vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung geschrieben habe: „Euro­pas Problem heißt Deutschland.“ Dieser Ansicht bin ich noch immer: Der Spar-Pakt von Merkel & Schäuble verlangsamt Europas wirtschaftliche Erholung. Aber anders als die aktuelle Völkerwanderung ist das kein Jahrhundert-Problem: Die Erholung wird in absehbarer Zeit gelingen, weil der Spar-Pakt bereits vernünftig modifiziert wurde. Wolfgang Schäubles calvinistische Rechtschaffenheit, die ihn im Sparen den einzig richtigen Weg aus der Wirtschaftskrise sehen ließ, ist in der Flüchtlingspolitik ein Segen: Helfen ist für ihn die einzig richtige Reaktion auf unverschuldete Not.