Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens: Die Stunde der Nationalisten

Peter Michael Lingens: Die Stunde der Nationalisten

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Die relevanteste Erklärung für die aktuellen Ereignisse, von der Flüchtlingskrise bis zum Brexit, habe ich in einem Interview gefunden, das der Hirnforscher und Wissenschaftspublizist Hoimar von Ditfurth 1989 kurz vor seinem Tod (also lang vor dem aktuellen Problem) gegeben hat: „Es gibt drei angeborene Handlungsanweisungen im Menschen. Sie stammen aus dem vor- und frühsteinzeitlichen Dschungel: Hab Angst vor jedem Menschen, den du nicht persönlich kennst! Die Rechte deiner Horde sind den Rechten aller anderen Kollektive übergeordnet! Wenn wir von Horden von Fremden lesen, die hier einwandern, dann revoltiert dieses Gesetz der Steinzeit in uns.“

Obwohl die Briten vom jüngsten Flüchtlingsstrom weit weniger als andere Länder (schon gar Schweden, Deutschland oder Österreich) betroffen sind, war die Behauptung, er würde sich dorthin ergießen, wenn sie der EU angehörten, das emotional mit Abstand wirksamste Argument der Brexit-Befürworter.

Die Briten haben bisher mehr als andere Staaten von der EU profitiert.

Die rationalen Argumente der Brexit-Gegner – dass der Verfall des Pfundes die großen Importe, auf die Britannien angesichts der Schrumpfung seiner traditionellen Industrie angewiesen sei, extrem verteuern würde oder dass ihre wichtigste verbliebene Industrie, die Finanzindustrie, am stärksten in Mitleidenschaft gezogen würde – hatten gegenüber den Gesetzen der Steinzeit keine Chance. Die Hirnlappen wurden nicht verwendet.

Dabei haben die Briten bisher mehr als andere Staaten von den Vorteilen der EU profitiert, ohne ihre Nachteile zu verspüren: Durch den Verbleib im Pfund sind ihnen die Probleme des Euro erspart geblieben; sie konnten gegenüber dem Euro abwerten und damit das deutsche Lohndumping kompensieren; sie haben nicht am Sparpakt teilgenommen und daher ihre Konjunkturen nicht ständig beschädigt; und sie haben schließlich nicht so lange wie die Eurozone mit QE zugewartet. (Und immer hatten sie ihren Briten-Rabatt, der sie nur vier Milliarden mehr in die EU einzahlen ließ, als sie zurückbekamen.)

Zusammengenommen hat ihnen das eine deutlich bessere wirtschaftliche Entwicklung als den meisten anderen Ländern der EU und insbesondere der Eurozone beschert. Das hat ihnen einerseits das Gefühl gegeben, wirtschaftlich stark zu sein, obwohl sie es, wenn ihre Finanzindustrie wirklich einbricht, in keiner Weise sind. Und es hat ihnen andererseits das nicht unberechtigte Gefühl vermittelt, dass die EU wirtschaftlich kein Erfolgsmodell darstellt, auch wenn das nur für die vergangenen Jahre, keineswegs insgesamt zutrifft und auch wenn ihnen die jüngsten Fehler – siehe oben – erspart geblieben sind. Es wird den Briten nach dem Brexit schlechter gehen – aber der EU leider, wenn sie fortfährt wie bisher, keineswegs besser.

Schon wie sie sich in Zukunft gegenüber Großbritannien verhalten soll, ist unendlich schwer zu entscheiden: Schließt sie mit den Briten Verträge nach dem Muster Norwegens oder der Schweiz, die ihnen die Rosinen, voran den vollen Zugang zum Binnenmarkt erhalten, so werden vergleichbare Volksabstimmungen in Frankreich, wo Marine le Pen sie schon gefordert hat, oder in Dänemark ähnlich ausgehen und den Zerfall der EU einleiten.

Schließt sie härtere Verträge – nach dem Motto: Ihr wolltet es so haben, dann seht zu, wie ihr mit den Folgen fertigwerdet –, dann leidet nicht nur die Wirtschaft Großbritanniens, sondern auch die der EU.

Ich gehe davon aus, dass eher die erste, „weiche“ Variante zum Tragen kommen wird – und damit werden wir, wenn nicht weitere Volksabstimmungen, so doch zumindest weitere massive Ausnahmeregelungen erleben. Die EU in ihrer gegenwärtigen Form wird – wie ich das in meinem vergangenen diesbezüglichen Kommentar („Das Ende der EU?“) aus einer ganzen Reihe von Gründen befürchtet habe – nicht mehr bestehen: Sie wird zu dem werden, was die Briten immer wollten, nämlich zu einer besseren Freihandelszone. Der Nationalismus wird sich als stärker als die Vernunft erweisen.

Lässt sich an dieser Entwicklung noch etwas ändern? Ich weiß es nicht. Folgende Sofortmaßnahmen scheinen mir nötig:

1. Kontrolle über den Flüchtlingsstrom zu erlangen, kommt jedenfalls, das hat das Brexit-Referendum gezeigt, entscheidende Bedeutung zu. Das ist der Grund dafür, dass ich, entgegen meiner persönlichen Präferenz und meinem privaten Verhalten, ein so entschiedener Anhänger der Pläne von Sebastian Kurz bin: Was er vorschlägt, ermöglicht mehr Kontrolle.

2. Die EU muss endlich Ernst mit der „Subsidiarität“ machen: Es ist wahnwitzig, nicht nur eine Richtlinie zum Energiesparen zu erlassen, sondern vorzuschreiben, welche Glühbirnen die Bürger ihrer Mitglieder verwenden dürfen. Es ist wahnwitzig, ihnen vorzuschreiben, wie Öl auf den Tisch kommen muss. Nicht weil die einzelne solche Vorschrift unbedingt falsch ist, sondern weil sie völlig unnötig böses Blut macht und weit wichtigere positive Leistungen der EU, etwa das Zerschlagen von Kartellen, in den Hintergrund drängt.

3. Vor allem aber muss Deutschland seine Wirtschaftspolitik ändern.