Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Brüderle nein – aber wie empört?

Brüderle nein – aber wie empört?

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Kein Journalist lässt sich die Sexismusdebatte um ­Rainer Brüderle entgehen. Ich möchte sie unter anderem dazu nutzen, aufzuzeigen, wie sehr ihr Ausgang davon abhängt, wie präzise der ihr zugrunde liegende Vorfall bekannt ist.

Meist nur so weit: Im Jänner 2012 wollte Brüderle an der nächtlichen Bar eines Hotels noch etwas trinken; die „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich wollte ihm noch ein paar politische Informationen entreißen; ihn interessierte nur ihre Oberweite, die er mit den Worten „Sie füllten auch ein Dirndl“ würdigte, ehe er sie mit einem Handkuss zum Tanz bitten wollte.

Fast alle Berichte enden hier, sprechen nicht von Oberweite, sondern von „Dekolleté“ und ermöglichen Ulf Posch­ardt damit in der „Welt“ folgenden Schluss: Wegen ­einer etwas zu deftigen Äußerung gleich Brüderles Rücktritt zu fordern sei „ins Kraut schießende Tugendwächterei“.
Ich sähe es bei diesem Wissensstand ähnlich: Es scheint mir noch kein Schwerverbrechen, wenn ein Mann einer Frau ein etwas zu deftiges Kompliment macht. Sich derart zu empören, dass man(n) ein Dekolleté wahrnimmt, schiene mir nur gerechtfertigt, wenn man jegliches Dekolleté verbietet. Denn diese Stelle des Körpers nackt zu lassen, statt sie wie Männer zu bedecken, hat trotz Alice Schwarzers wütendem Protest eine einzige Funktion: die des erotischen Signals. Es ist die in unserer Kultur gesellschaftlich akzeptierte Form, als Frau klarzustellen, dass man ein sexuelles Wesen ist. Man kann Männer nicht schon verdammen, wenn sie dieses Signal wahrnehmen (selbst wenn es ihnen gar nicht gilt) und das durch Blicke und Worte kundtun. Nur deren Wahl sollte charmanter sein.
Andernfalls muss man die Burka fordern.

Falls Laura Himmelreich freilich gar nicht dekolletiert war (was selbst intensivste Recherchen nicht klären konnten), war Brüderles Äußerung nur „anlassig“ – sexistisch – und ohne jeden Charme.

Vor allem geht der Vorfall im Hotel weiter: als die Journalistin gehen will, nähert Brüderle sich ihr derart, dass sie die Hände abwehrend vor den Körper heben muss und seine Pressereferentin es für nötig hält, dazwischenzugehen und sich bei Himmelreich für ihn zu entschuldigen.
Das nötigt mir ein qualitativ anderes Urteil ab: Mein Verständnis für erotische Kommunikation endet völlig, wo diese beginnt, handgreiflich zu werden. Jede Frau muss sicher sein können, dass ihre körperliche Integrität respektiert wird. Wo das nicht mehr der Fall ist, streift man in der Schweiz bereits ans Strafrecht, und mildernd ließe sich für Brüderle höchstens anführen, dass er schon über den Durst getrunken hatte. Privat werte ich auch seine 67 Jahre mildernd und begründe das mit einem Witz, den ich einem 80-jährigen Bankier verdanke: Warum miaut selbst ein kastrierter Kater nachts noch immer, wenn eine Katze vorbeistreicht? Weil er glaubt, dass sie nicht weiß, dass er nur mehr Konsulent ist. Mit meinen 72 darf ich alten Herren etwas mehr Verständnis entgegenbringen als vermutlich Elfriede Hammerl.

Eine seriöse Zeitung muss die Information über Brüderle aber dringend erweitern: Mehrere Journalistinnen haben ihn in ähnlicher Erinnerung wie Laura Himmelreich. Das rechtfertigt den dringenden Verdacht, dass sich hinter seiner aktuell diskutierten Entgleisung doch eine prinzipielle Haltung zu Frauen verbirgt: dass sie nämlich glücklich sein sollten, wenn ein zwar nicht mehr junger, aber noch immer prominenter Politiker ihnen die Qualität zugesteht, seine sexuelle Gespielin zu sein. Und das ist der Punkt, an dem sich mein Kommentar vermutlich nicht mehr sehr von dem Elfriede Hammerls unterscheidet.

Höchstens, dass mich mehr als sie beeindruckt, wie sehr sich die Zeiten geändert haben: 1970 wurde ein profil-­Cover über Wiens Bürgermeister Felix Slavik erfolgreich beschlagnahmt, weil ich dort beschrieben habe, wie er anlässlich eines Saloniki-Besuchs versuchte, die ihm zugeteilte Hostess zu begrapschen. Ein „Wahrheitsbeweis“ war unzulässig, weil die Judikatur dergleichen unter die schützenswerte Privatsphäre zählte. Die Bevölkerung übrigens auch.

2013 fordern 90 Prozent der Deutschen, dass Brüderle sich öffentlich entschuldigt, und 45 Prozent legen ihm nahe, als Spitzenkandidat der FDP zurückzutreten.

Das erschwert die Kommentierung ein letztes Mal, denn es erfordert auch Informationen zum „Stern“. Dessen stellvertretender Chefredakteur bewarb die ein Jahr verspäteten Erinnerungen Himmelreichs per Twitter nämlich folgendermaßen: „Wir müssen konstatieren: Die Partei der Chauvis, Grapscher und Herrenreiter kommt immer noch locker über die fünf Prozent.“

Dies in einem Augenblick, in dem die FDP höchste Gefahr läuft, an der 5-Prozent-Hürde zu scheitern.

Wie weit, so diskutierte ich gerne mit Elfriede Hammerl, soll das Verhalten eines Politikers gegenüber Frauen unser Wahlverhalten beeinflussen, solange es nicht strafbar ist? Hätte man John F. Kennedy in Kenntnis seines Sexismus nicht wählen dürfen? Ich weiche der Antwort aus, indem ich hier bloß konstatiere: Ich glaube nicht, dass uns an ­Brüderle ein Kennedy verloren ginge.

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