Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Die Lust an der Krise

Die Lust an der Krise

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Atemberaubendes passiert: Wissenschafter sind in der Lage, Leben – DNA – künstlich herzustellen. Aber die Zeitungen vermelden es kaum – sie sind mit dem weichen Euro beschäftigt. Angeblich hat die Rettung einer kleinen spanischen Bank durch den spanischen Staat ihn so weich gemacht; in den USA sind seit Jahresbeginn 73 ­Banken eingegangen, und niemand sorgt sich um den Dollar.

Ich bleibe dabei, dass es voran Europas Minderwertigkeitskomplex ist, der den Euro weich macht: die panischen Äußerungen so vieler Staatschefs, vermehrt um die besorgten Auslassungen so vieler „Experten“ (die sich noch gestern sorgten, dass ein zu starker Euro Europas Wettbewerbsfähigkeit gefährden könnte), verstärkt durch die Kommentare so vieler Wirtschaftsjournalisten, die die US-Finanzkrise zehn Jahre verschlafen haben und das jetzt offenbar EU-weit kompensieren.
Das Geheimnis der USA ist ihr Optimismus: Wir sind gut; wir kommen da raus; wir wachsen wieder; der Dollar ist und bleibt die beste Währung der Welt.

Die Crux der Europäer ist ihr Pessimismus: Wir haben Strukturprobleme; wir wachsen zu wenig; die ganze EU ist gefährdet. Wie soll der Euro da nicht weiche Knie haben?

Vielleicht sollte man – nur zur Erholung – unsere Welt der entwickelten Industrieländer (von der EU über ­Japan bis zu den USA) einmal folgendermaßen betrachten: Wir besitzen Agrartechnologien, die uns erlauben, unsere gesamte Bevölkerung bis zum Übergewicht zu mästen. Unser einziges Nahrungsproblem besteht in der Überproduktion. Das gilt auch für alle anderen Waren: Wir können mehr als genug Autos, Fernseher, Laptops, Kleider usw. produzieren, denn es mangelt uns weder an Rohstoffen noch an Energie, noch an Know-how.

Was es gibt, ist ein aktuelles Problem der Verteilung: Die unteren Einkommen, die voll in den Konsum gehen könnten, sind in den vergangenen zwanzig Jahren zu weit hinter denen der oberen Zehntausend zurückgeblieben, die damit spekulieren. Aber dennoch ist die gesamte Bevölkerung ­reicher denn je: Selbst von der Mindestsicherung kann man überall irgendwie leben. Und zwar ziemlich unabhängig ­davon, wie der Euro gerade zum Dollar oder zum Yen steht.

Armut, wirkliche Armut spielt sich anderswo – von Bangladesch bis Äthiopien – ab und ist uns erstaunlich egal. (Insbesondere den Österreichern, wenn ich das Budget für Entwicklungshilfe betrachte.)
Unsere Hysterie, aufgrund dieser oder jener Wirtschaftskrise zu verarmen, ist durch nichts – nicht einmal mehr die Knappheit des Erdöls – gerechtfertigt. Wir geben uns ihr nur besonders gerne hin. Nach dieser grundsätzlichen Einschätzung der Krise ein paar kritische Worte zu Spanien, das ich ein bisschen kenne. (Richtiger: Ich kenne Andalusien, weil ich dort lange gelebt habe, aber Spaniens Probleme sind dort konzentriert.)

Da gab es keine Industrie, aber diesen ungeheuren Bauboom, in dem man die Costa del Sol durch Legebatterien für Menschen verunstaltet hat. Die stehen jetzt begreiflicherweise leer, und auch mein Haus ist die Hälfte wert. Die Immo-Blase ist gewaltig – aber immer noch kleiner als in den USA.
Es liegt nahe, dass nicht nur die Baufirmen, die nichts mehr zu verbauen haben, sondern auch die Banken, deren Geld in Bauruinen steckt, jetzt Probleme haben, die sie – gescheit, wie Banker nun einmal sind – durch den Kauf griechischer Anleihen zu kompensieren suchten.

Probleme hat auch der Tourismus: Man hat die Landschaft verschandelt und hinkt in der Qualität (etwa den Österreichern) um zwanzig Jahre nach. Aber das alles ändert nichts daran, dass Spaniens Wirtschaft in diesen zwanzig Jahren unglaublich gewachsen ist; dass dieselben Banken, die in Spanien eine Blase finanziert haben, Lateinamerika erschließen; und dass vor allem die Bevölkerung unglaublich an Wohlstand hinzugewonnen hat. Wahrscheinlich etwas zu schnell: Wie in den USA hat sich die Verschuldung der privaten Haushalte verdoppelt. Man erlebt das sehr eindringlich in städtischen Garagen: Sie wurden seinerzeit für Kleinstwagen gebaut – jetzt müssen die vielen riesigen Offroader in jeder Kurve dreimal reversieren.

Auch die Struktur der Verwaltung erfordert viel Reversieren: Die Bürokratie gleicht der Österreichs in den sechziger Jahren. Jedes Verfahren dauert endlos: Vor fünfzehn Monaten wurde ich etwa aufgefordert, mich einem Sehtest für einen neuen Führerschein zu unterziehen – ich habe ihn bis heute nicht. Gleichzeitig sind die Beamten, wie seinerzeit bei uns, von Herzen grantig und auch dann beim Gabelfrühstück, wenn sich an den Schaltern Warteschlangen stauen.

Für diese Behandlung in Franco-Tradition revanchieren sich die Spanier durch eine griechische Steuermoral: Auch größere Firmen nennen für ihre Arbeiten automatisch Nettopreise ohne Mehrwertsteuer. Die zahlt man nur, wenn man zu ihrem größten Staunen eine Rechnung fordert. Es gibt also eine ganze Reihe durchaus ernsthafter, durchaus realer Schwachpunkte in diesem südlichen Zipfel Europas. Trotzdem ist es ein herrliches Land, gibt es unglaublich fleißige, gut ausgebildete Arbeitskräfte, funktionierende Schulen, gute Universitäten und – rechts wie links – intelligente, kompetente Politiker. Nichts spricht dafür, dass Spanien ­außerstande sein sollte, seine Wachstumsprobleme zu lösen. Es hat sie – aber auf einem Niveau, von dem es vor dem Beitritt zur EU nicht zu träumen wagte.

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