Peter Michael Lingens: Europa auf Kurz-Kurs
Werner Faymanns Feststellung, dass Österreich nicht Deutschlands Wartesaal für Flüchtlinge sein könne – Angela Merkel solle sie direkt aus Griechenland, der Türkei oder Jordanien abholen –, ist zweifellos populär: Die SPÖ wird in den Umfragen gegenüber der ÖVP wieder aufholen. Der Vorsprung der FPÖ ist freilich zementiert: Heinz-Christian Strache hat immer schon gesagt – Tür zu!
Mittlerweile ist ganz Europa auf diese Linie eingeschwenkt: Wer noch Flüchtlinge aufnimmt, ist selber schuld. Kein Staatschef will diese Schuld auf sich laden, also machen alle Staaten die Grenzen so dicht wie möglich. Denn die „Europäische Lösung“ ist Schimäre. Angela Merkel, die immer noch keine „Obergrenze“ für die Aufnahme festlegen will, ist völlig isoliert. Die CDU versagt ihr die Gefolgschaft zwar noch nicht offiziell, aber de facto macht ihr Innenminister Thomas de Maizière gemeinsam mit Bayerns Horst Seehofer auch Deutschlands Grenzen täglich dichter.
Jemand, der diese Entwicklung immer klar vorhergesehen hat, war Außenminister Sebastian Kurz. Er, nicht Reinhold Mitterlehner oder gar Werner Faymann, hat Österreichs heutige Linie vorgegeben. Von Beginn an hat er erklärt, dass Österreich sich daran orientieren müsse, was die ihm nachgelagerten Länder tun. Als Schweden seine Grenze zu Deutschland de facto schloss, war er mit Horst Seehofer einig, dass auch Deutschland die seine zu Österreich sofort schließen sollte. Als Merkel sich weigerte, war für ihn klar, dass Österreich nicht Deutschland folgen, sondern sich ein Beispiel an Schweden nehmen und die Grenze zu Slowenien schließen müsse. Die Prophezeiung, dass damit alle Grenzbalken der Balkanroute im Domino-Effekt heruntergehen würden, sah er nie als Kritik, sondern erklärte sie zu seiner Strategie: Er wolle eine Kettenreaktion der Vernunft auslösen, die zu einer fairen europäischen Lösung führe. Die sieht derzeit so aus, dass sich am Ende der Reaktionskette, im krisengeschüttelten Griechenland, rund 50.000 Menschen stauen, zu denen jeden Tag Tausende hinzukommen. Das würde, sagen Kurz und Johanna Mikl-Leitner, dazu führen, dass Griechenland endlich die EU-Außengrenze, wie vertraglich vorgeschrieben, „schützt“ – nur mehr durchlässt, wen die EU aufnehmen will.
Eine Grenze zum Meer kann man allerdings nur dichter machen, indem man Schlauchboote, die sich ihr nähern, tunlichst abdrängt. Insofern zog Griechenlands Außenminister einen ähnlich zutreffenden logischen Schluss wie Kurz, als er sarkastisch meinte, am erfolgreichsten schütze sein Land die EU-Außengrenze, indem es die Flüchtlinge massenweise ertrinken lasse.
Ich wiederhole diesbezüglich die moralische Alternative, vor der jeder steht, der die weitere Aufnahme von Flüchtlingen ablehnt: Er nimmt in Kauf, dass der Betreffende stattdessen von Bomben getötet wird oder ertrinkt.
Ich weiß, dass Europa nicht alle Verzweifelten Afrikas und Asiens aufnehmen kann. Aber es geht nicht um „alle“ (...)
Zugunsten Straches halte ich fest, dass selbst er die Aufnahme von „echten Flüchtlingen“ nicht offen ablehnt – die Ablehnung geschieht wie bei Viktor Orbán auf dem Umweg über die Behauptung, dass es kaum echte Flüchtlinge gäbe, dass es sich in Wirklichkeit nur um Wirtschaftsflüchtlinge handle. Und nicht einmal das ist völlig falsch: Flüchtling gemäß Genfer Konvention ist nur, wer in seiner Heimat aus bestimmten dort aufgezählten Gründen verfolgt wird – Krieg zählt nicht dazu. Österreich kann die Aufnahme der meisten Syrer, Iraker oder Afghanen daher rechtlich korrekt ablehnen. Nur ändert das nichts an der moralischen Alternative: Je weniger Leute wir aufnehmen, desto mehr sterben im Krieg oder im Meer.
Ich weiß, dass Europa nicht alle Verzweifelten Afrikas und Asiens aufnehmen kann. Aber es geht nicht um „alle“, sondern bei realistischer, pessimistischer Einschätzung um rund eine Million Menschen, die jedes der nächsten vier, fünf Jahre zu den 508 Millionen EU-Bürgern hinzukämen. Das nicht zu schaffen, obwohl 4,5 Millionen Libanesen eine Million Flüchtlinge aufgenommen haben, ist eine moralische Bankrotterklärung der EU. Deutschland könnte sie heroisch abwenden, indem es diese Million jedes Jahr alleine aufnimmt, zumal seine Bevölkerung bis 2030 um neun Millionen schrumpfen wird. Österreich könnte Deutschland etwas von dieser Last abnehmen, indem es fünf Jahre hindurch je 100.000 Menschen aufnimmt.
Um sich die Mengenverhältnisse besser vorzustellen, zeichne man 85 schwarze Kreise für je 100.000 Einwohner auf ein Stück Papier und stelle ihnen dann einen, zwei und zuletzt fünf rote Kreise für je 100.000 aufgenommene Flüchtlinge gegenüber. Dann orientiere man sich an Hans Jörg Schellings Schätzung, dass uns 100.000 Flüchtlinge im Jahr rund eine Milliarde Euro kosten. Das ist ein Betrag, den er locker aus „Schweizer“-Erbschaftssteuern für Superreiche erlöste – wenn wir das wollten. Aber wir nehmen nur 37.500 Flüchtlinge, und die nur noch heuer, auf.
Die Hilfsbereitschaft der Menschen nimmt in dem Ausmaß ab, in dem ihr Wohlstand zugenommen hat, sagte mir Flüchtlingskoordinator Christian Konrad – und der muss es wissen (siehe auch profil-online).