Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Freibrief für Massenmord

Freibrief für Massenmord

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US-Außenministerin Hillary Clinton sieht in der Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen „kein dringendes Anliegen“. Dass die „Battlegroup“ der EU eine einrichtete, wäre das achte Weltwunder.
Die zivilisierte Welt gibt Muammar Gaddafi also grünes Licht, seine Flugzeuge ungefährdet loszuschicken. Dies, nachdem er bewiesen hat, dass er bereit ist, Bomben auf die eigene Bevölkerung abzuwerfen, und erklärt hat, dass er auch hunderttausend Tote in Kauf nimmt.

Seine Chancen, den verlorenen Osten des Landes dank dieser Möglichkeit zurückzuerobern, sind entsprechend gestiegen. Die Chancen seines Volkes, ihn loszuwerden, sind entsprechend gefallen, auch wenn es immer noch möglich ist, dass er bei Erscheinen dieses Kommentars schon nicht mehr regiert.

Aber dann trotz der Politik von EU und USA. US-Verteidigungsminister Robert Gates hat sie im Übrigen exakt so begründet, wie die gesammelten Friedensforschungs-Institute dieser Welt sich das schon immer gewünscht haben: „Nennen wir es, wie es ist: Die Errichtung einer Flugverbotszone beginnt mit der Zerstörung der gegnerischen Luftverteidigung. Das ist ein Angriff auf Libyen

So etwas tun die Amerikaner nicht und tut die EU schon gar nicht. Es ist ja auch völkerrechtswidrig, denn der Sicherheitsrat hat dazu keine Zustimmung erteilt und wird sie auch nie erteilen, solange dort andere Diktaturen Sitz und Stimme haben.

Die wahren Gründe für das amerikanische Verhalten sind vielschichtig. Erstens sind die Amerikaner nicht sicher, ob sie das wahrscheinliche Chaos „nach Gaddafi“ der Kerker-Stabilität mit Gaddafi vorziehen. Vor allem aber könnte ein Eingreifen der USA zugunsten der Bevölkerung die Herrscher in Saudi-Arabien und Umgebung verschrecken: König Abdullah wäre womöglich nicht mehr absolut sicher, dass die amerikanischen Streitkräfte voll hinter ihm und in keinem Fall hinter seinem Volk stehen.

Darüber hinaus sind die USA unendlich kriegsmüde und haben es – „endlich“, wie die Friedensforscher erfreut feststellen werden – satt, sich als „Weltpolizist“ europäischer Kritik auszusetzen.

Der Krieg im Irak hat ihnen das Gros der Schulden eingebracht, die sie jetzt niederdrücken, und ihnen die mora­lische Glaubwürdigkeit geraubt, denn sie haben ihn unter ­einer erlogenen Begründung und aus den falschen Motiven – nie der Errichtung einer freien Gesellschaft wegen – geführt.Der Krieg in Afghanistan hat sie moralisch nicht im gleichen Ausmaß beschädigt, aber dafür haben sie ihn nicht ge­wonnen.

Die USA wollen kein militärisches amerikanisches Eingreifen mehr. Es erhielte seitens der Bevölkerung keine Zustimmung und scheiterte auch in Senat und Kongress, weil die Republikaner immer für das Gegenteil dessen stimmten, was Barack Obama vorschlüge.

Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die USA zu der Rolle, die sie noch in Ex-Jugoslawien gespielt haben, außerstande sind: Sie greifen auch dann nicht mehr ein, wenn es in keiner Weise um einen eigennützigen Krieg, sondern um die Abwehr eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit geht. Denn natürlich hätte die Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen entgegen der Darstellung von Robert Gates nichts mit einem Krieg im moralischen und damit letztlich auch völkerrechtlichen Sinn dieses Wortes gemein: Sie geschähe zur Vermeidung verbrecherischer Aktivitäten. Die USA wären ausnahmsweise tatsächlich und unangreifbar in der Rolle eines Weltpolizisten, dessen Aufgabe es ist, die Menschen vor einem drohenden Angriff auf ihr Leben zu schützen.

Wäre der UN-Sicherheitsrat eine diesbezüglich glaubwürdige und funktionierende Institution, so müsste er einer solchen Polizeiaktion natürlich auch seine Zustimmung erteilen, ja sie in Auftrag geben. Aber der Sicherheitsrat kann angesichts seiner Zusammensetzung keine glaubwürdige und funktionierende Institution sein, deshalb ist es noch auf Jahrzehnte hinaus unsinnig, völkerrechtliche Zulässigkeit an seine Entscheidung zu binden.

Wir hatten das Glück, dass die USA eine Zeit lang die ­moralische Autorität – später freilich nur mehr die brutale Stärke – besessen haben, wie in Ex-Jugoslawien auch ohne seine Zustimmung einzugreifen oder seine Zustimmung zu „Maßnahmen“ als Zustimmung zu kriegerischen Interventionen auszulegen.

Dass die USA diese moralische Autorität nicht mehr ­besitzen, ist deshalb eine weltweite Katastrophe.

Theoretisch wäre die Stunde der EU gekommen. Schließlich liegt Libyen an ihrer Peripherie – nicht an der der USA. Ihr könnte man keine unlauteren Motive unterstellen, und sie hätte durchaus die militärische Potenz, die Flugverbotszone über Libyen zu verwirklichen. Aber sie hat sie umsonst, weil sie zu keinem außenpolitischen Entschluss fähig ist. Ihre Mitglieder werden militärisches Eingreifen auch in Zukunft an Einstimmigkeit binden, und die wird es nie geben – sei es, weil Deutschland zu friedensbewegt ist, sei es, weil Italien oder Frankreich zu große wirtschaftliche Interessen im allfälligen Einsatzgebiet haben, sei es, weil Österreich „nie und nimmer“ (Werner Faymann) an solchen Einsätzen ­teilnähme.

Nehmen wir zur Kenntnis: Die freie Welt lässt die auf Freiheit hoffende libysche Bevölkerung im Stich. Vielleicht gelingt es ihr trotzdem, Gaddafi loszuwerden. Wahrscheinlicher gelingt es Gaddafi, sie wieder einzusperren. Wenn es dabei zu einem Blutbad kommen sollte, sind wir schuld.


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