Peter Michael Lingens: Tsipras & Varoufakis haben eine Chance für Europa verspielt

Peter Michael Lingens: Grexitus?

Peter Michael Lingens: Tsipras & Varoufakis haben eine Chance für Europa verspielt

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Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis hat auch das nicht erreicht, was bei weniger Aggressivität vielleicht erreichbar gewesen wäre: eine Lockerung des „Spar-Paktes“, den Merkel & Schäuble zu Lasten Griechenlands auch Europas stärksten Volkswirtschaften, von Skandinavien bis Holland, von Frankreich bis Deutschland, auferlegt haben. Es war eine völlige Fehleinschätzung meinerseits, zu glauben, dass er die Chance wahrnehmen würde, die Spar-Pakt-kritischen unter diesen Ländern auf seine Seite zu ziehen. Er hat lediglich versucht, die Spar- und Reformauflagen loszuwerden, die Griechenland auferlegt wurden – und ist damit zu Recht gescheitert.

Denn obwohl das Wort „Sparen“ in beiden Zusammenhängen vorkommt, handelt es sich um wirtschaftlich völlig verschiedene Szenarien: Griechenland hat tatsächlich in einem gespenstischen Ausmaß „über seine Verhältnisse“ gelebt. Sein Staatsapparat war tatsächlich ebenso riesig wie ineffizient. Seine Löhne waren tatsächlich um vieles zu hoch. Nicht weil die Griechen „faul“ sind, sondern weil die Produktivität ihrer Industrie so gering ist. Weil man weder den Export simpler Agrarprodukte noch Billig-Tourismus mit den dreifachen Lohnkosten der Türkei betreiben kann.

Und natürlich kann ein Staatswesen auch nicht funktionieren, wenn Steuern durchwegs hinterzogen werden und die einzige erfolgreiche Industrie, die Schifffahrt, überhaupt keine zahlt.

Wenn es ein Land gibt, bei dem die Spar- und ­Reform-Auflagen von EU und IWF rundum gerechtfertigt waren, dann ist es Griechenland.

Es ist ein anderes Kapitel, dass die EU Griechenland das Versagen erleichtert hat: Indem es trotz geschönter Zahlen in die Eurozone aufgenommen wurde. Indem Angela Merkels Deutschland noch rasch die teuersten Rüstungsgeschäfte mit Griechenland abschloss. Indem deutsche und französische Banken zuerst gewaltig an den hohen Zinsen griechischer Anleihen verdienten, um die zugehörigen Verluste dann auf den Steuerzahler zu überwälzen: Natürlich war die milliardenteure Rettung griechischer Banken nicht zuletzt eine Rettungsaktion für Großbanken Deutschlands und Frankreichs.

Natürlich kam alle Hilfe zu zögerlich.

Das alles sind Milderungsgründe – aber nicht Gründe, die Griechen freizusprechen: Die Hauptschuld an ihrer Misere tragen sie selber, indem sie eine unfähige Regierung nach der anderen ins Amt befördert haben.

Griechenland wurde nicht „kaputtgespart“, sondern hat sich seit Langem in einem desolaten Zustand befunden. Allerdings hat der Spar-Pakt, den Merkel & Schäuble über alle EU-Staaten gleichermaßen verhängten, diesen desolaten Zustand nach Kräften verschlimmert:

➤ Indem er das Wirtschaftswachstum durchaus intakter Länder halbiert hat, verantwortet er deren zurückbleibende Kaufkraft (die in Deutschland wegen der „Lohnzurückhaltung“ schon vorher besonders zurückgeblieben war): Das hat den Export griechischer Waren in diese Länder zusätzlich erschwert. ➤ Und natürlich gaben und geben die Bürger von Ländern, die der Spar-Pakt in ihrem Wachstum hemmt, bei ihren Urlauben in Griechenland weniger aus, als sie unter besseren wirtschaftlichen Voraussetzungen ausgäben. Mit der aktuellen Verlängerung des Hilfsprogramms ist die Griechenland-Krise aus allen angeführten Gründen nur weitere Monate hinausgeschoben.

Ich gehöre zur Minderheit derer, die schon bisher für ­einen Euro-Ausstieg des Landes plädierten – umso mehr sehe ich ihn jetzt als die bessere Lösung an. Denn jetzt werden die angeführten Probleme der griechischen Wirtschaft auch noch durch das Misstrauen verschärft, das potenzielle Investoren einer Regierung entgegenbringen, die in ­Yanis Varoufakis einen Marxisten zum Guru hat.

Dieses Misstrauen hat den laufenden Kapitalabfluss zur Flut anschwellen lassen.

Die einzige Chance Griechenlands – im Euro wie in der Drachme – ist die Selbsterneuerung. Vielleicht gelingt sie wider Erwarten einem naiven Linken wie Tsipras. Vielleicht ist Varoufakis wider Erwarten doch mehr Wirtschaftswissenschafter als Marxist – und beherzigt seine Aussage, wonach man den Kapitalismus „vor einer Implosion bewahren muss“, weil der Zeitpunkt zur Systemüberwindung „noch nicht gekommen ist“.

Man sollte nicht ausschließen, dass er in der Praxis vernünftiger als erwartet agiert. Dass er dabei etwas mehr Spielraum hatte, selbst festzulegen, wo er einsparen will, könnte die Chance erhöhen, dass es funktioniert. Das größte Sparpotenzial sehe ich bei den Militäraus­gaben, die so hoch sind, weil sie optimale Möglichkeiten zur Korruption bieten. Tsipras’ wie Varoufakis’ „linke“ Gesinnung könnte ihre Regierung zumindest im wichtigen Kampf gegen die Korruption erfolgreicher machen.

Auch dass sie Griechenlands Oligarchen endlich zur Steuerleistung zwingt, ist ihr eher als ihrer Vorgängerin zuzutrauen. Dass sie auf teure Dienstwagen verzichtet, nutzt zumindest psychologisch: Es könnte die Bevölkerung unvermeidliche Härten eher akzeptieren lassen.

PS: Im Wiener Atelier-Theater hat sich bis 20. März Franz Kafkas großartigster je von mir gesichteter „Affe“ eingenistet. Unbedingt ansehen!