Peter Michael Lingens: Merkels fiktive Abschiedsrede

Peter Michael Lingens: Merkels fiktive Abschiedsrede

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Dass Angela Merkel für ihre Humanität büßt, wird Spuren hinterlassen: In Zukunft werden Politiker sich hüten, vergleichbar zu handeln. Wäre ich Merkel, ich versuchte zumindest, mich zu erklären – in einer Rede vor dem Bundestag, die sie so nie halten wird.

„Ich habe diese Sondersitzung erbeten, weil ich weiß, dass viele von Ihnen mir nicht mehr vertrauen, weil ich Flüchtlingen Willkommen signalisiert habe und weil ich mich gegen eine Obergrenze für ihre Aufnahme sträube.

Voran zum zweiten Vorwurf: Deutschland hat die Genfer Konvention unterzeichnet, und diese legt ein Recht jedes einzelnen Flüchtlings auf Asyl fest, sofern ihm aus bestimmten angeführten Gründen Verfolgung droht. Deutschland ist durch EU-Grundsätze zur Gewährung von Asyl verpflichtet. Und diese Verpflichtung ist Teil des Grundgesetzes.

Daher verstieße ich gegen Völkerrecht, EU-Recht und das Grundgesetz, wenn ich eine ‚Obergrenze‘ akzeptierte. Ich weiß, dass die CSU das anders sieht, und werde mich freuen, wenn sie diesbezüglich Klage beim Verfassungs­gerichtshof einbringt – denn sein Urteil wird mich be­stätigen. Ich möchte Ihnen aber vor allem die zwingende praktische Folge einer ‚Obergrenze‘ ins Bewusstsein rufen: Vom Tod bedrohte Menschen, denen Asyl zu gewähren wir durch eine ‚Obergrenze‘ ausschließen, finden den Tod! Oder glauben Sie, dass Assad, der IS oder diverse Terrormilizen nur bluffen?

Ich gehöre zwar einer Generation an, die keine Schuld mehr an den Verbrechen Deutscher in der NS-Zeit trägt, aber ich schäme mich ihrer noch.

Der für mich begreiflichere Vorwurf betrifft meine Bereitschaft, jene Menschen in Deutschland aufzunehmen, die im Oktober des Vorjahres an der griechisch-mazedonischen Grenze im wahrsten Sinne des Wortes im Regen standen. Ja, die Gesichter vor allem der verzweifelten Frauen und Kinder haben mich zutiefst berührt – gerührt, wenn Sie wollen.

Ich gehöre zwar einer Generation an, die keine Schuld mehr an den Verbrechen Deutscher in der NS-Zeit trägt, aber ich schäme mich ihrer noch. Ich kann die Gesichter verzweifelter Flüchtlinge hinter Stacheldrahtzäunen noch nicht von den Bildern der Verzweifelten trennen, die vor Hitler in andere Länder flohen oder in Auschwitz oder Treblinka seinen Verbrechen zum Opfer fielen. Ich habe daraus, so wie das Grundgesetz, eine besondere Verpflichtung Deutschlands abgeleitet, Menschen, die vor Verbrechen fliehen, die größte nur mögliche Hilfe zu gewähren. Und der Krieg Assads gegen seine Bevölkerung ist ebenso ein Verbrechen wie der Terror des IS oder der Taliban, auch wenn wir an diesen Verbrechen völlig schuldlos sind.

Schließlich spielt wohl auch mein Leben in der ehemaligen DDR eine Rolle. Auch dort war Flucht – die Flucht Ostdeutscher nach Westdeutschland – die Folge verbrecherischer Politik. Auch dort war ich glücklich über westdeutsche ‚Willkommenskultur‘. Mir ist klar, dass es einen großen emotionalen Unterschied macht, ob Deutsche Deutsche oder ob sie Syrer oder Afghanen bei sich aufnehmen sollen. Aber ich dachte, dass unsere beiden Parteien, CDU und CSU, das C für ‚christlich‘ im Namen führen und dass Christus uns auffordert, diesen Unterschied hintan zu stellen: Wir sollen, so lehrt er, dem helfen, der ‚unter die Räuber gefallen ist‘, gleich ob er zu uns gehört. Ich habe daraus die besondere Verpflichtung christlichsozialer Parteien abgeleitet, Syrern, Afghanen, Irakern und anderen mehr, die unter die Räuber gefallen sind, größtmögliche Hilfe zu leisten.

Ich verschließe die Augen auch nicht vor den gewaltigen gesellschaftlichen Problemen, die auftreten werden oder wie in Köln schon aufgetreten sind.

Nun höre ich Horst Seehofer einwenden, dass wir das längst schon tun. Das aber wage ich, so unpopulär es sein mag, zu bestreiten – auch wenn wir mehr als viele andere tun. Keineswegs mehr als alle. Denn wir sind in einer anderen Lage: Deutschlands Bevölkerung schrumpft bis 2030 um mehrere Millionen Menschen. Unsere Wirtschaft boomt. Viele Unternehmen suchen Arbeitskräfte. Es fehlt also weder an Raum noch an Arbeitsplätzen.

Natürlich weiß ich, dass kaum ein Flüchtling schon morgen den Mangel an Facharbeitern oder IT-Spezialisten lindert. Aber unsere Unternehmen erzielen hohe Gewinne und unser Staatshaushalt hat Milliardenüberschüsse. Das sollte es finanziell ermöglichen, Flüchtlinge auch über fünf, ja zehn Jahre hinweg zu unterstützen und so gut auszubilden, wie es der Arbeitsmarkt erfordert. Ich halte für zumutbar, das abzuwarten.

Ich verschließe die Augen auch nicht vor den gewaltigen gesellschaftlichen Problemen, die auftreten werden oder wie in Köln schon aufgetreten sind. Ja, der kulturelle Unterschied ist größer, als er es etwa bei der Aufnahme muslimischer Bosnier war. Damit umzugehen ist eine große Herausforderung für jeden einzelnen Bürger, für die Schulen, die Polizei oder die Justiz. Wir müssen sicher mehr Polizisten, Juristen, Lehrer oder Sozialarbeiter einstellen. Vielleicht Integrationskurse mit Sexualunterricht vorschreiben. Aber warum sollte dieser reiche, starke deutsche Staat, dessen Zivilgesellschaft sich täglich derart bewährt, das nicht fertigbringen?

Ja, ich sage unverändert: Wir schaffen das. Und schlage Ihnen vor, hier und jetzt darüber abzustimmen, ob Sie das Deutschland und mir zutrauen. Wenn nicht, trete ich gerne ab.“