Peter Michael Lingens
Peter Michael Lingens: „Postfaktische“ Neuwahlen

Peter Michael Lingens: „Postfaktische“ Neuwahlen

Peter Michael Lingens: „Postfaktische“ Neuwahlen

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Das neue Jahr steht medial unter neuen Vorzeichen: Die Zahl der Journalisten, die die Regierung jeden zweiten Tag auseinanderbrechen sehen, wird sich stark verringern. Ich persönlich halte baldige Neuwahlen für nahezu ausgeschlossen.

• Im Gegensatz zu Norbert Hofer wird Bundespräsident Alexander Van der Bellen sie der FPÖ sicher nicht bescheren. • Der SPÖ nützten sie nur, wenn sie ihr die Möglichkeit einer regierungsfähigen rot-grün-pinken Koalition eröffneten – das geht sich laut allen Umfragen um Längen nicht aus. • Restlos kontraindiziert sind baldige Neuwahlen für die ÖVP. Sie liegt derzeit bei rund 20 Prozent und könnte bei einem von ihr provozierten vorzeitigen Wahlgang noch darunter zu liegen kommen. Dann reichten ihre Mandate womöglich nicht einmal mehr aus, einer FPÖ-geführten Regierung die Mehrheit zu sichern. Ganz abgesehen davon, dass nie ausgeschlossen wäre, dass FPÖ und SPÖ zusammenfinden.

Die ÖVP kann gar nichts anderes wollen, als möglichst viel Zeit, um stärker zu werden.

Reinhold Mitterlehner hat richtig geschlossen, dass sie am ehesten stärker werden kann, indem sie zur FPÖ abgewanderte Wähler zurückgewinnt: „Die FPÖ ist unser Hauptgegner.“ Mehr noch: „Wir müssen Strache als Kanzler verhindern.“

Ich behaupte, dass eine seriöse Wertung der Wirtschaftsdaten sehr wohl eine gute Regierungsleistung ergibt.

Diese Aussage ist – erstmals – ein Bekenntnis zu schwarz-roter Zusammenarbeit auch nach den Wahlen. Christian Kern denkt trotz seines freundlicheren Umgangs mit Heinz-Christian Strache sicher nicht anders. Beide Parteien müssen daher unverändert alles tun, um die Österreicher davon zu überzeugen, dass ihre Zusammenarbeit besser funktioniert, als die meisten Medien sie darstellen. Ich behaupte, dass eine seriöse Wertung der Wirtschaftsdaten sehr wohl eine gute Regierungsleistung ergibt, und ärgere mich über Kollegen, denen es offenkundig Lust bereitet, möglichst häufig das Wort „Versagen“ zu gebrauchen. Leider liefern ihnen VP-Funktionäre dazu oft bessere Aufhänger als Strache – von Christoph Leitl, der Österreich unbegründet „absandeln“ lässt (um es derzeit aufgrund ebenso lächerlicher „Rankings“ wieder hochleben zu lassen), bis zu Reinhold Lopatka oder Wolfgang Sobotka, die statt der blauen Opposition fast durchwegs den roten Koalitionspartner attackieren.

Dabei hat die Wahl Alexander Van der Bellens eines sehr wohl gezeigt: Die gewollte Zukunft ist längst nicht schwarz-blau. Straches Behauptung, dass sich die Mehrheit der Österreicher einen Wechsel zu einer FP-dominierten Regierung wünscht, widerspricht der Wahrheit. Die Wähler der Grünen und der NEOS wollen diesen Wechsel sicher nicht. Die Wähler der SPÖ wollen die FPÖ ausschließlich als Juniorpartner. Die ÖVP-Sympathisanten sind gespalten: Die circa 55 Prozent, die Van der Bellen statt Hofer gewählt haben, wollen Strache sicher auch nicht als Kanzler.

Allenfalls die Mehrheit der FPÖ-Wähler will ihn als Regierungschef – und nicht einmal dessen bin ich mir ganz sicher (siehe Kerns deutlichen Vorsprung in der Kanzlerfrage).

Die Wahrheit lautet: Es gibt eine klare Mehrheit, die ausdrücklich nicht von Straches FPÖ regiert werden will.

Kurz ist der derzeit glaubwürdigste Politiker Europas, wenn es um die Bewältigung des Flüchtlingsproblems geht.

Das Problem besteht darin, sie wieder vorrangig hinter SPÖ und ÖVP zu vereinen. Das ist nur durch funktionierende Zusammenarbeit in den nächsten Monaten zu erreichen – und danach durch den geordneten Wechsel von Reinhold Mitterlehner zu Sebastian Kurz. Kurz ist der derzeit glaubwürdigste Politiker Europas, wenn es um die Bewältigung des Flüchtlingsproblems geht: Ausschließlich seiner Initiative ist die Schließung der Balkan-Route zu danken, die Österreich geordnete Grenzverhältnisse beschert und Angela Merkel vor dem Rücktritt bewahrt hat. Auch alles, was er der EU für ihr weiteres Vorgehen anrät – die Verlagerung der Asylauslese nach Ägypten, Marokko, Tunesien und Libyen –, mag in den Ohren mancher Menschen „unmenschlich“ klingen, ist es aber nicht: Nur so lässt sich vermeiden, dass Afrika den initiativsten, am besten ausgebildeten Teil seiner Bevölkerung durch Abwanderung verliert, und dass Europa in rechtsradikales Chaos versinkt.

Kurz denkt Probleme einen Schritt weiter als viele andere Politiker – und er weiß seine Gedanken in klare Worte zu fassen. Ob er auch bezüglich der Türkei Recht behält, muss sich erst zeigen – es gibt gute Gründe, die Beitrittsverhandlungen nicht einzufrieren, und gute Gründe, es sehr wohl zu tun. Dass Teile der österreichischen Bevölkerung die Türkei auch dann nicht in der EU haben wollten, wenn sie ein demokratischer Rechtsstaat wäre, ist ein anderes – bedauerliches – Kapitel. Dass Kurz’ Haltung gegenüber der Türkei formal mit jener der FPÖ übereinstimmt, ist im konkreten Fall von Vorteil – es ist ein weiterer Grund, von ihr zu ihm überzulaufen.

Zusammengefasst: Kurz hat das Zeug dazu, der FPÖ fünf bis zehn Prozent Wähler zugunsten der ÖVP abzunehmen. Das reicht, um ÖVP und SPÖ gmeinsam wieder über 50 Prozent kommen zu lassen. Sofern er vermeiden kann, sich mit Kern im Stil Lopatkas um Platz eins zu streiten (statt fair zu duellieren), ergibt das für SPÖ und ÖVP eine seriöse Chance, Österreichs Politik wieder zu dominieren.

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