Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens: Was bringen die Neuwahlen?

Dass Reinhold Mitterlehner seine Ämter zurücklegt, spricht noch nicht zwingend dafür, dass alles besser wird.

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Mit Reinhold Mitterlehner hat einer der anständigsten, seriösesten und kompetentesten Politiker des Landes das Handtuch geworfen. Das spricht mehr als jeder vorangegangene Obmann-Wechsel gegen die ÖVP.

Alles, was er in seiner Abschiedserklärung gesagt hat, stimmt: Ihm ist es wirklich ausschließlich darum gegangen, dieses Land voranzubringen. Er hat in der Vergangenheit erheblich dazu beigetragen. Und er behauptet auch mit Recht, dass das zuletzt gemeinsam mit Christian Kern beschlossene Arbeitsprogramm ein weiterer wesentlicher Schritt in die richtige Richtung war.

Ich habe hier mehrfach anhand von Zahlen aufzuzeigen versucht, dass die Regierung eine insbesondere im wirtschaftlichen Bereich ausgezeichnete Leistung bietet – aber leider zitieren erstaunlich viele Journalisten und Wirtschaftsfunktionäre lieber dubiose Rankings.

Auch die Kritik am ORF, mit der Mitterlehner seine Abschiedserklärung eingeleitet hat, war in meinen Augen ausnahmsweise berechtigt: Die ZIB-Redaktion hat (in Wahrheit über Monate) unabsichtlich Politik gemacht, indem sie jede zweite ZIB-Sendung mit Zweifeln am Fortbestehen dieser Regierung und mit Spekulationen über Mitterlehners Ablöse eingeleitet hat. Jede Sendung hat auf diese Weise die Zweifel und Spekulationen befördert, die der nächsten Sendung als "objektive" Basis neuerlicher, noch intensiverer Zweifel und Spekulationen gedient haben. Dass viele Zeitungen genau so agiert haben, war meines Erachtens ebenfalls eine Form des Politik-Machens, die ich persönlich für problematisch halte.

Mein Kommentar dürfte dennoch den Titel tragen "Die Totengräber warten schon" – in einer Nachrichtensendung des ORF hat diese Formulierung m.E. jedoch nichts zu suchen. Es gibt nun einmal einen Unterschied zwischen privaten Medien und dem öffentlich rechtlichen Rundfunk: Er muss alles vermeiden, was als Politik-Machen wirkt.

Im Gegensatz zu Mitterlehner glaube ich allerdings nicht, dass es ein neues ORF-Volksbegehren braucht, um dergleichen zu reparieren. Die ORF-Berichterstattung ist im allgemeinen kompetent, korrekt und vor allem erstaunlich parteiunabhängig.

Es wollte der ÖVP sicher niemand etwas antun, indem in dieser Form über Mitterlehner berichtet wurde – sondern einige Redakteure haben in meinen Augen zu wenig zwischen Nachrichten-Sendung und Magazin-Sendung unterschieden. Der verstorbene ORF-Chefredakteur Franz Kreuzer hätte ihnen den Unterschied klarer gemacht, obwohl er wusste, dass es unmöglich ist "Fakten" ohne zu Grunde liegende "These" zu berichten. (Ich entnehme Christian Rainers Kommentar, dass er Mitterlehners Medien-Schelte anders sieht, aber hier unterscheidet sich unsere Sichtweise eben ausnahmsweise.)

Leitl, Lopatka und Sobotka machen jede rot-schwarze Regierung im Alleingang fertig.

Mitterlehner hat die ORF-Sendung freilich nur als den letzten Stein in einem Mosaik genannt. Und in diesem Mosaik spielt seine eigene Partei zweifellos die Hauptrolle: Es ist ganz einfach ein Reflex innerhalb der ÖVP, dass sich einige Leute angesichts schlechter Umfragewerte gegen den Obmann verschwören – gleichgültig, ob er diese schlechten Werte nun verantwortet. Die ÖVP ist der Intriganten-Stadel, als der sie in der öffentlichen Meinung gilt.

Mitterlehner hat es aber zu Recht als darüber hinaus greifendes Grundproblem bezeichnet, dass sie gleichzeitig Regierungspartei und Opposition sein will.

So hat niemand die Arbeit der Regierung erfolgreicher abgekanzelt, als der schwarze Wirtschaftsfunktionär Christoph Leitl, der den Wirtschaftsstandort "abgesandelt" nannte, obwohl dafür, wenn es stimmte, der schwarze Finanz- und der schwarze Wirtschaftsminister hauptverantwortlich wären.

Wer einen Leitl hat, braucht keinen H.C. Strache, um die Regierungsarbeit so schlecht wie möglich aussehen zu lassen.

Und die ÖVP hat offenkundig jede Menge Leute, denen vor allem wichtig ist, durch "Sager" auf sich aufmerksam zu machen.

Ich habe zu Mitterlehners Amtsantritt geschrieben, dass seine Arbeit nur gedeihlich funktionieren kann, wenn er sich von Reinhold Lopatka trennt, denn der sei grundsätzlich illoyal - er würde sich immer im falschen Moment auf verfehlte Weise zu Wort melden, um seiner maßlosen Eitelkeit zu genügen.

Lopatka ist dieser Einschätzung durchaus gerecht geworden. Doch als ich über ihn schrieb, kannte ich Innenminister Wolfgang Sobotka noch nicht. Mir ist, Karl Heinz Grasser eingeschlossen, in meiner nunmehr fast sechzigjährigen journalistischen Laufbahn am Bildschirm noch nie ein eitlerer Minister begegnet. Wenn er nicht täglich mindestens einmal sein Kinn in eine Fernsehkamera gereckt hat, kann er, glaube ich, des Nachts so wenig einschlafen wie ein Alkoholiker, wenn er der den ganzen Tag nichts trinken konnte. Und so wie Alkoholiker immer die Dosis steigern müssen, muss Sobotka das auch: Er konnte nicht mehr dabei bleiben, täglich zu verkünden, wie dicht er die Grenzen macht – er musste Bundeskanzler Kern völliges Versagen vorwerfen, obwohl der Flüchtlingsstrom nur mehr tröpfelt und das Integrationspaket auf dem Weg ist.

Die Opposition der FPÖ ist überflüssig: Leitl, Lopatka und Sobotka machen jede rot-schwarze Regierung im Alleingang fertig.

Ich halte Kurz für stark genug, diese Bedingungen durchzusetzen.

Zu Recht hat Mitterlehner angesichts seines Abschiedes auch darauf hingewiesen, dass es ein Problem der inneren ÖVP-Struktur geben muss, wenn sie vier Obmänner in zehn Jahren und seit 1945 bereits 16 Obmänner verbraucht hat.

Es ist unendlich schwierig, ein starker Obmann zu sein, wenn jeder Landesfürst ungleich stärker ist und der Obmann des Wirtschaftsbundes mindestens gleich stark.

Sebastian Kurz hat Dienstagabend erklärt, dass er die ÖVP sicher solange nicht übernehmen wird, als sie sich in ihrem derzeitigen Zustand befindet und ich halte ihn für intelligent genug, dass er damit nicht bloß die aktuellen Querelen, sondern sehr wohl diese "Struktur" gemeint hat.

Seit Freitag 11 Uhr ist klar, dass er tut, was alle erwartet haben. Er stellt der ÖVP Bedingungen: Der Parteiobmann muss das Recht haben, die politische Linie vorzugeben und die wesentlichen Personalentscheidungen zu fällen.

Im Detail wird er das in etwa so eingrenzen:

  • Ausschließlich der Obmann bestimmt die schwarzen Minister. Weder Bünde noch Länder haben "ihr" gepachtetes Ministerium. (Auch der SPÖ täte eine solche Veränderung gut.)
  • Der Obmann hat entscheidenden Einfluss auf die Reihung der Kandidaten für ein Nationalratsmandat.

Ich halte Kurz für stark genug, diese (sinnvollen) Bedingungen durchzusetzen, weil die ÖVP so schwach ist, dass sie keine andere (unsinnige) Wahl hat.

Deshalb bin ich nicht so sicher, dass Strache Kurz die Kanzlerschaft offeriert

Von seiner Ausstrahlung her halte ich ihn, wie Rainer, für den Kanzlerkandidaten, mit dem die ÖVP die weit größeren Chancen hat – durchaus auch die Chance wieder stärkste Partei zu werden. Nicht nur, weil er sein Amt höchst erfolgreich versieht, sondern vor allem, weil seine Strahlkraft bis weit in die FPÖ hineinreicht: Ihm wird es sehr viel eher gelingen, blaue Wähler zu VP-Wählern zu machen.

Das leitet zu der Frage über, was wir in Zukunft zu erwarten haben.

Theoretisch wäre es möglich und demokratisch nicht einmal illegitim, wenn Kurz sofort Kanzler einer schwarz- blauen Koalition würde, denn die Österreicher haben vor drei Jahren keine rot-schwarze Koalition gewählt, sondern nur die SPÖ hat deren Fortsetzung versprochen.

Aber ich glaube eher nicht, dass Kurz diese Vorgangsweise wählen wird, denn sie käme bei den Wählern m.E. denkbar schlecht an und stärkte die FPÖ massiv, wenn im September 2018 regulär gewählt wird.

Kurz kann also m.E. entweder doch mit Kern als Kanzler weiterregieren oder Neuwahlen erzwingen. Das würde ihm in der konkreten Situation, anders als sonst, nicht einmal vorgeworfen.

Nur ist höchst fraglich, ob die ÖVP aus diesen Neuwahlen als stärkste Partei hervorginge, eher würde ich vermuten, dass die FPÖ weiterhin vorne bleibt.

Dann aber ist höchst fraglich, ob H.C. Strache tatsächlich zu Gunsten von Kurz aufs Kanzleramt verzichtet. Denn Jörg Haiders FPÖ hat mit Wolfgang Schüssel als Kanzler denkbar schlechte Erfahrungen gemacht – der hat den blauen Regierungsmitgliedern völlig die Show gestohlen und am Ende war die FPÖ der kleine rechte Schmiedl neben dem stark gewachsenen rechten Schmied.

Ich halte Strache zwar für strahlkräftiger als die seinerzeitigen FP-Vertreter (Haider selbst blieb ja bekanntlich in Kärnten) aber Kurz für strahlkräftiger als Schüssel. Daher würde ich vermuten, dass er in einer schwarz-blauen Koalition, die er als Kanzler führt, nicht weniger deutlich die Oberhand über H.C. Strache behielte.

Deshalb bin ich nicht so sicher, dass Strache Kurz die Kanzlerschaft offeriert, wenn die FPÖ als stärkste Partei aus Neuwahlen hervorgeht.

Dass Kurz in einer von Strache geführten Regierung den Vizekanzler gibt, kann ich mir allerdings noch viel weniger vorstellen.

Ein von der ÖVP initiierter Neuwahl-Poker könnte also durchaus auch zu einer Regierung führen, in der Strache den Kanzler und Hans Peter Doskozil den Vizekanzler (oder umgekehrt) gibt – so wenig ich mir das vorstellen möchte.

P.S.: In der Öffentlichkeit und unter Kollegen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Kurz für Schwarz-Blau steht. Zur Begründung dienen zwei Argumente:

  • Erstens, dass seine Flüchtlingspolitik viele FPÖ-Bedingungen erfüllt. Ich halte das nicht für stichhaltig: Sie erfüllt auch viele Bedingungen, die ich oder Christian Kern an die Flüchtlingspolitik stellen und weder er noch ich fühlen besonders freiheitlich.
  • Zweitens: Kurz hat nie eine Äußerung gemacht, die auf Distanz von der FPÖ schließen lässt. Das ist richtig, wäre aber auch ein Gebot erfolgreichen Taktierens. (Österreich zählt ja zu den Ländern, in denen Parteien nie vorher sagen müssen, mit wem sie koalieren werden, obwohl das die entscheidende Frage ist.) Auch Kern hat die Distanz zur FPÖ ja deutlich reduziert, auch wenn er die ÖVP als Partner zweifellos vorzieht. Ich glaube nicht, dass man Kurz jetzt schon so eindeutig klassifizieren kann.