Rainer Nikowitz

Rainer Nikowitz Der Kommissar geht um

Der Kommissar geht um

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Willi Molterer war ein Mann, der eher selten zu Tagträumen neigte. Sein wildester war bis heute zugleich sein letzter gewesen. Es musste wohl vor ungefähr eineinhalb Jahren gewesen sein, als plötzlich dieses Bild in seinem Kopf auftauchte, von ihm und Maria Rauch-Kallat, wie sie auf dem Tisch des Bundeskanzlers … Und das eindeutig beste daran: Der Tisch des Bundeskanzlers war seiner! Willi erinnerte sich auch noch deutlich, Mitzis linkische Bemühungen mit einem herrischen „Es reicht!“ beendet zu haben.

Also brachen sie ihr Pfitschigogerln-Match beim Stand von 0:0 ab.
Nun, seither war allerdings ein bisschen was passiert. Die Sache mit dem Tisch war doch irgendwie anders gekommen – und Mitzi hatte ihn beim letzten Mal 6:1 paniert. Willi saß jetzt in seinem Garten unter dem Kriecherlbaum – genau genommen war es ja ein Birnbaum, aber Willi nannte ihn so, weil er unter ihm früher immer Hannes Missethon empfangen hatte – und schaute über den Rand des Buchs, das er in Händen hielt, hinweg ausdrucksstark ins Narrenkastl. Das Buch war selbstredend unschuldig, war es doch ein echter Knüller – „Offengelegt“ von Wolfgang Schüssel –, aber Willi war heute doch ein wenig unkonzentriert. Er sah sich über die Grand Place in Brüssel flanieren, hinter ihm ein Rattenschwanz von an seinen Lippen hängenden Reportern von Weltblättern wie der „Financial Times“, dem „Economist“ oder den „Mühlviertler Nachrichten“, vor ihm eine Traube von Autogrammjägerinnen, von denen eine sogar völlig enthemmt ein Pappschild mit der Aufschrift „Voulez-vous coucher avec moi?“ schwenkte.

Willi lächelte gütig, als er seine Schritte in die Rue de l’Etuve lenkte, in der er im Vorbeigehen einem Aussätzigen die Hand auflegte (der dann allerdings unerklärlicherweise schreiend davonlief) und schließlich beim Manneken Pis anhielt, dem er im Blitzlichtgewitter launig zurief: „Hey Junge! Ein neuer Sheriff ist in der Stadt!“ Und etwas später an diesem Tag würde er die Wirtschaftskrise beenden, das Bauernsterben stoppen und Barack Obama, der an diesem Tag in der Stadt war, um sich von Willi das eine oder andere abzuspicken, Preferanzen beibringen …

Willi streckte sich behaglich in seinem Schaukelstuhl und sog tief die würzige Luft ein, die an Tagen mit günstiger Nordwest-Strömung vom Autobahnknoten Sattledt zu ihm ins herzzerreißend schöne Sierning herüberwehte. Es war ja doch ein gutes Land. Man konnte sich das – trotz verschiedener Wahlergebnisse in den letzten drei Jahren, nach denen man durchaus in Versuchung geraten hätte können, etwas anderes anzunehmen – nicht oft genug vor Augen halten. Wo sonst hätte die größere Regierungspartei denn so schmerzlos das Naturrecht der kleineren, einfach immer den EU-Kommissar zu stellen, anerkannt? Und anderswo – Willi konnte sich das zwar nicht wirklich vorstellen, aber man musste davon ausgehen, dass es in noch unterentwickelten Demokratien wie zum Beispiel Rumänien oder Bulgarien so war –, anderswo schaute man möglicherweise zuerst, welches Ressort man denn in Brüssel überhaupt bekam, bevor man sich auf einen Kandidaten festlegte.

Willi schüttelte mit dem Ausdruck, den er an sich selbst am meisten schätzte – jenem des milden Tadels –, seinen Kopf. Diesen bedauernswerten Bananenrepu­bliken fehlte es eben an vielem: Reife, Festigkeit und, nun ja – der ÖVP. Gut, eines musste man schon auch einräumen. Die Versuche, ihn mit dieser lästigen Spekulationsgeschichte der Bundesfinanzierungsagentur anzupatzen, waren doch eher unfein gewesen. Da war doch verschiedentlich tatsächlich so getan worden, als habe er mit dieser Sache irgendetwas zu tun gehabt. Oder gar verstanden, was es damit auf sich gehabt hatte. Dabei war er doch bloß Finanzminister gewesen – wenn auch der zweitbeste aller Zeiten. Was also wollten die von ihm? Sollte er deshalb etwa ewig im Nationalrat herumsitzen und so tun, als interessierte ihn das noch irgendwie?

Willis Bekümmerung wich aber sogleich, als er vor seinem geistigen Auge wieder Brüssel sah … Jetzt war er in der Petite Rue des Bouchers und jonglierte für ein begeistertes Kamerateam aus Litauen mit ein paar Austern. Dazu sagte er: „Egal, ob Austern, Messer oder Zahlen – man hat dieses Talent, oder man hat es eben nicht!“ Von ferne hörte er das Bimmeln eines Handys. Er brauchte eine Weile, um zu registrieren, dass der litauische Kameramann in seinem Tagtraum wohl eher nicht die oberösterreichische Landeshymne als Klingelton hatte. Es war seines, und es läutete ziemlich real.

Der Sepp war dran. Willi hatte schon den ganzen Tag auf seinen Anruf gewartet. Schließlich sollte sich heute entscheiden, welches Ressort Österreich bekam. „Mehrsprachigkeit!“, sagte Sepp stolz. „No ja“, erwiderte Willi etwas unsicher, „Englisch geht so, mit einem kleinen Crashkurs …“ Aber Sepp meinte das anders. „Das Ressort, Willi! Wir haben für dich das Ressort ,Mehrsprachigkeit‘ erkämpft!“ Und Willi, dieses seltene politische Naturtalent, schaltete sofort. Schon sein nächster Tagtraum hatte Untertitel.

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Rainer   Nikowitz

Rainer Nikowitz

Kolumnist im Österreich-Ressort