Robert Treichler
Robert Treichler

Kann der Vatikan geklagt werden?

Missbrauchsopfer in Belgien haben es versucht. Vorerst erfolglos. Leider.

Drucken

Schriftgröße

Vor knapp mehr als zehn Jahren, im Juni 2011, brachten Anwälte in der belgischen Stadt Gent eine aufsehenerregende Klage ein. profil berichtete damals (profil Nr. 23/ 2011). Das Ungewöhnliche daran war die Identität einer der beklagten Parteien: der Heilige Stuhl, Anschrift: I-00120 Città del Vaticano. Den Vatikan vor Gericht bringen zu wollen, mutete ebenso aufrührerisch wie aussichtslos an, doch es war ernst gemeint – und nachvollziehbar begründet.

Die Kläger gaben allesamt an, von katholischen Priestern und Ordensleuten sexuell missbraucht worden zu sein. Nachweislich wurden Informationen über die mutmaßlichen Verbrechen immer wieder bis in die Zentrale der katholischen Kirche weitergeleitet – in den Vatikan. Weil jedoch damals die Regel galt, dass Missbrauchsfälle nicht an weltliche Behörden gemeldet werden durften, blieben die pädophilen Priester unbehelligt und wurden meist bloß versetzt.

Wer sollte dafür – auch im rechtlichen Sinn – verantwortlich sein, wenn nicht der Vatikan?

Doch die belgische Justiz entschied anders und lehnte eine Zuständigkeit für den Heiligen Stuhl sowohl in erster als auch in zweiter Instanz ab. Der Vatikan gilt völkerrechtlich als souveräner Staat und genieße daher rechtliche Immunität, so die Gerichte. Die angezeigten Verbrechen seien zudem in Belgien begangen worden, und der Vatikan sei nicht dafür verantwortlich, wie die belgischen Bischöfe darauf reagiert hätten.

Die Kläger jedoch ließen nicht locker und brachten den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der musste sich somit zum ersten Mal in seiner Geschichte mit der Immunität des Vatikans befassen.

Seit Kurzem liegt auch diese Entscheidung vor. Der EGMR schließt sich der Auffassung der belgischen Justiz an, der Vatikan muss nicht vor Gericht.
Ist das gerecht?

Gemäß geltendem Völkerrecht ist es zumindest korrekt. Aber wurden nicht auch schon als immun geltende Staatsoberhäupter festgenommen und belangt? Allerdings. Diese Entwicklung begann mit der Festnahme des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet in London im Jahr 1998 (Pinochet durfte später wegen seines schlechten Gesundheitszustandes in seine Heimat zurückkehren). Doch bei Pinochet ging es unter anderem um das Delikt der Folter, bei
anderen wie Sudans Ex-Diktator Umar al-Baschir um Völkermord.

Ist massenhafter sexueller Missbrauch nicht schlimm genug, um die Immunität infrage zu stellen? Wenn der völkerrechtliche Wille da wäre, ließe sich das ändern. Walter Van Steenbrugge, einer der Anwälte der Opfer, reagierte auf die Zurückweisung der Klage mit einer bitteren Feststellung: „Wären wir im Mittelalter, würde ich sagen, ja, so ist das eben, aber jetzt, nach all den schwerwiegenden Berichten von Missbrauchsopfern? Wie kann man nachts gut schlafen, wenn man ein solches Urteil gefällt hat?“

Papst Franziskus hat für die Fehler seiner Kirche 2018 öffentlich um Vergebung gebeten. Die skandalösen Regeln der Geheimhaltung gegenüber der weltlichen Gerichtsbarkeit wurden geändert. Entschädigungszahlungen wurden geleistet. Man kann nicht sagen, die Kirche habe ihr Versagen nicht doch noch eingesehen und darauf reagiert.

Doch die rechtliche Schuldfrage für diese kriminellen Versäumnisse bleibt offen, und das ist für die Kirche ein Schandfleck und für die staatlichen Justizbehörden ein Auftrag: alles zu tun, um diese Delikte vor Gerichte zu bringen. Das geschieht bei individuellen Missbrauchstätern, nicht aber bei denen, die für die Geheimhaltung und die Vertuschung verantwortlich waren. Sie ermöglichten es, dass aus Tätern Serientäter wurden.

Die Behauptung, der Vatikan habe keine Handhabe über das Verhalten von Priestern und Bischöfen in den Ortskirchen, und sei deshalb für die Praxis von Geheimhaltung und Versetzung von Tätern nicht verantwortlich, ist fadenscheinig. Sie wurde in diesem Fall wie auch bei Verfahren in den USA vorgebracht. Doch dagegen spricht, dass eine Organisation, die sogar ein Eheverbot ihrer Funktionsträger in aller Welt zentral verordnet, selbstverständlich die Autorität in Fragen des Umgangs mit Missbrauchstätern hat.

Einer der Richter des EGMR kam tatsächlich zu einer anderslautenden Meinung, die auch veröffentlicht wurde. Er argumentiert, dass der Vatikan von Rom aus Bischöfe ernennt und entlässt und ganz offensichtlich kraft seiner hierarchischen Macht bestimmt habe, wie mit Missbrauchstätern umgegangen wurde.

Eines spricht ganz sicher dafür, die Immunität in einem solchen Fall außer Kraft zu setzen: Bei keiner anderen weltweit agierenden Organisation, Glaubensgemeinschaft oder sonstigen Institution würde die internationale Gemeinschaft zögern, alle bestehenden Regeln zu ändern, damit eine strafrechtliche Verfolgung möglich ist.

Das letzte richterliche Wort ist ohnehin noch nicht gesprochen. Die unterlegene Partei hat drei Monate Zeit, um zu verlangen, dass die Große Kammer des EGMR sich des Falles annimmt.

Danach bleibt nur noch das Jüngste Gericht. 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur