Robert Treichler: Sind Sie Zerstörer oder Patriot?

Hongkong ist Schauplatz einer geopolitisch entscheidenden Auseinandersetzung: Was ist attraktiver – die westliche Demokratie oder das, was China unter Demokratie versteht?

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Es scheint ganz simpel: Der Begriff „Demokratie“ heißt in Mandarin, der Mehrheitssprache Chinas, „Min Zhu“, und so könnte man annehmen, einer gepflegten Unterhaltung – oder auch einer hitzigen Debatte – mit Chinas Machthabern über den politischen Streit in Hongkong stünde nichts mehr im Wege. Doch das ist, leider, ein fatales Missverständnis. Denn das eine hat mit dem anderen wenig zu tun, die beiden Wörter, die eigentlich laut Wörterbuch dasselbe bezeichnen, stehen in der Realität für zwei miteinander unvereinbare Konzepte. Schlimmer noch, es handelt sich nicht um ein banales Übersetzungsproblem, sondern letztlich um einen der größten geopolitischen Konflikte unserer Zeit: Welche Staatsform gewinnt weltweit an Bedeutung, wer setzt sich durch – „Demokratie“ oder „Min Zhu“? 

Nirgendwo wird die Diskrepanz zwischen dem Denken der chinesischen Führung und dem ihrer westlichen Widerparts deutlicher als in Hongkong, der Sonderverwaltungszone, die seit 1997 wieder unter chinesischer Staatshoheit steht. So sieht Peking die Sache:

Am 11. März beschloss der Nationale Volkskongress, Chinas gesetzgebende Institution, ein Gesetz zur „Verbesserung des Hongkonger Wahlrechts“, berichtete die staatliche „Volkszeitung“. Dies sei nötig gewesen, weil die bisherigen Regeln „Schlupflöcher“ gelassen hätten, durch die „anti-chinesische Störenfriede“ Einzug ins das Hongkonger Parlament gefunden hätten, um von da aus „die Stabilität und Sicherheit zu gefährden“. Die neuen Regeln sehen vor, dass „Zerstörer“ in Hinkunft von der Kandidatur ausgeschlossen seien, nur noch „Patrioten“ dürften sich der Wahl stellen, so die „Volkszeitung“.

Patriotismus als Voraussetzung für das passive Wahlrecht? Das bedeutet eine Beschränkung auf Basis eines inhaltlichen – und nicht objektivierbaren – Kriteriums. Bereits an dieser Stelle tut sich ein unüberwindlicher Graben zwischen „Min Zhu“ und „Demokratie“ auf. Wer sollte darüber entscheiden, ob Kandidaten und Kandidatinnen ihre Heimat lieben? Und warum sollte dies eine unbedingte Voraussetzung sein?

Der Nationale Volkskongress hat darauf eine Antwort: Eine Wahlkommission wird befinden, wer dem Kriterium entspricht. Diese wird so zusammengesetzt sein, dass die Peking-loyalen Kräfte in jedem Fall ein unüberwindliches Veto gegen jede missliebige Kandidatur einlegen können. Weshalb nur Patrioten wählbar seien, erläutert wiederum die „Volkszeitung“ damit, dass nur solche Politiker „ihre Heimat und die Gesellschaft lieben und aufrichtig die Interessen der Bürger schützen“. Und Chinas Botschaft in Wien beteuert auf profil-Anfrage, es handle sich um keine Einschränkung des Pluralismus, denn: „Die Bandbreite der ,Patrioten’ war, ist und bleibt groß.“ 

China rechtfertigt derartige Maßnahmen einerseits mit dem Hinweis darauf, dass es eine „sozialistische“ Variante von Demokratie mit chinesischen Charakteristika entwickelt habe, und andererseits mit der Behauptung, auch in westlichen Demokratien seien Einschränkungen bei Kandidaturen üblich. Die staatliche Nachrichtenagentur „Xinhua“ nennt als Beispiel die USA, wo Mitglieder des Senats bei Amtsantritt einen Eid auf die Verfassung ablegen müssen. Dieser formelle Akt hat allerdings mit einer Vorauswahl der Kandidaten auf Basis einer undurchsichtigen Definition des Begriffs „Patriotismus“ nichts zu tun.

Wahrscheinlich kann man Chinas Verständnis von Demokratie nur begreifen, wenn man zunächst seine Verfassung liest. In Artikel 2 ist bereits die Herrschaft der Kommunistischen Partei – als einziger Partei – festgeschrieben, womit eines der grundlegenden Elemente der Demokratie, nämlich der Machtwechsel durch Wahlen, von vornherein ausgeschlossen wird.

All das ist gewachsene Tradition seit der Staatsgründung im Jahr 1949. Neu ist, dass der chinesische Apparat in Hongkong auf eine Bürgerschaft trifft, die sich dieser kommunistischen „Min Zhu“ nicht so einfach unterwerfen will. Die chinesische Führung verweist erbost – und nicht zu Unrecht – darauf, dass Hongkong nun wieder Teil der Volksrepublik sei, doch die Opposition in der Metropole hat das Versprechen „ein Land, zwei Systeme“ noch deutlich im Ohr und will Hongkongs Form der Demokratie in einem frei gewählten Parlament selbst bestimmen.
Diese Auseinandersetzung zwischen dem kommunistischen Regime der aufstrebenden Weltmacht und einer zum Teil durch westliches Denken geprägten Bevölkerung zeigt, wie China in solchen Fällen handelt. Und das sollte uns – dem Westen – allein wegen der Unterdrückung legitimer Sehnsüchte der Bewohner von Hongkong nicht egal sein; Aber mehr noch dient der Konflikt als Warnung für zukünftige Auseinandersetzung auf globaler Ebene.

China wendet fünf Taktiken an, um sein Ziel einer Ausschaltung westlich-demokratischer Elemente zu erreichen:

  • Die Demokratie wird anderen Werten untergeordnet. „Stabilität“ und „Wohlstand“ könnten nur erreicht werden, wenn das Wahlsystem – angeblich – zuwiderhandelnde Personen aus der Politik verbannt.
  • Ein Volkswille wird behauptet und auf pseudodemokratische Weise belegt. Die „Volkszeitung“ berichtet ausführlich über Unterschriftenaktionen und Symposien von „patriotischen Gesellschaften“, die „in allen 18 Distrikten“ von Hongkong stattfänden und zeigten, dass Bürger „aus allen Schichten“ hinter der Wahlrechtsreform des Nationalen Volkskongresses stünden und „sogar trotz Regens“ an den Versammlungen teilnähmen. 
  • Die junge Generation, die bei den Demonstrationen der pro-demokratischen Opposition besonders zahlreich vertreten war, müsse mittels „Erziehung zum Patriotismus“ ideologisch bekehrt werden.
  • Die Jahrzehnte lang in der Volksrepublik praktizierte Repression gegenüber Dissidenten wird auch in Hongkong angewandt. Die Köpfe der Demokratiebewegung landen im Gefängnis oder werden zur Flucht ins Exil genötigt.
  • Kritik aus dem Ausland wird in die Schranken gewiesen. Als die Außenminister der G7-Staaten Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan und Großbritannien in einem Statement „Besorgnis“ über die Wahlrechtsreform äußern, geißelt Chinas Nachrichtenagentur Xinhua die „absurde Rhetorik“ und warnt, dass die G7 für weitere „sinnlose Einmischung“ einen „Preis zahlen“ würden.

Das ist das Match zwischen westlicher Demokratie und chinesischer „Min Zhu“. Und es findet nicht nur in Hongkong statt.

Bei der diese Woche zu Ende gehenden 46. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates gab der Vertreter des autoritären europäischen Staates Belarus (Weißrussland) eine Erklärung zur Unterstützung von Chinas Wahlrechtsreform ab, und sprach dabei im Namen von nicht weniger als 70 Staaten. Darunter befinden sich übliche Verbündete Chinas wie Kuba, Venezuela und Nordkorea, aber auch viele afrikanische Staaten, die von den enormen Investitionen der Volksrepublik profitieren. Die vermeintlich unpolitische und rein wirtschaftliche Expansion zeigt Wirkung. Wer auf Peking ökonomisch angewiesen ist, ist auch bereit, dessen Politik zu akzeptieren.

Wer hält dagegen? Die grobe, vorschnelle Antwort lautet: Der Westen. Also die EU, die USA, Großbritannien, Japan, Kanada, Australien. Auch das ist bloß teilweise wahr. Innerhalb der EU bremsen Ungarn und Griechenland – beide Profiteure der neuen chinesischen Seidenstraßen-Initiative – bei harschen Antworten gegenüber Peking. Desaströs ist, dass es der westlichen Wertegemeinschaft nicht gelungen ist, Freiheit und Demokratie nach unserer Lesart zum unangefochtenen Exportschlager zu machen. Die Versuchung, sich an China zu orientieren, scheint in vielen Teilen der Welt zumindest ähnlich groß zu sein wie die Attraktivität des westlichen Systems.

Die österreichische Bundesregierung ließ 2020 aufhorchen, als sie in ihrer Regierungserklärung den „Ausbau der strategischen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika“ festschrieb – und das während der Amtszeit des geopolitischen Enfant terrible Donald Trump. Tatsächlich wäre alles andere als ein felsenfestes Bündnis mit den USA für Österreich – und Europa – angesichts der Rolle Chinas ein Irrwitz. Trump war ein Systemfehler in einer stabilen Demokratie, der Sturm auf das Kapitol der Skandal eines Tages; Was Peking in Hongkong betreibt, ist hingegen planmäßiges Ersticken demokratischer Sehnsüchte.

Ist der Unterschied zwischen westlicher und chinesischer Demokratie ein Fall von Kulturrelativismus? Fragen Sie sich einfach, ob Sie es ok fänden, von einer Kommission auf Patriotismus getestet zu werden.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur