Robert Treichler: Pandemie, Pass und Privilegien

Das Virus ist nicht gerecht. Wie gehen wir damit um?

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Was kann das Zusammenleben während einer Pandemie noch unerträglicher machen? Ungerechtigkeit. Wenn sich einzelne Leute oder Gruppen auf Kosten anderer Vorteile verschaffen, ist das immer empörend. Angesichts einer Ausnahmesituation sind jedoch Privilegien, Diskriminierungen, Vordrängeln unverzeihlich. Erleben wir das gerade? Beim geplanten Impfpass, bei der Verteilung des Impfstoffs, bei Unterstützungsleistungen? Vorwürfe dieser Art gibt es genug.

Der geplante „Grüne Pass“, ein EU-weit einheitlicher Impfpass, der digital speichern soll, ob jemand geimpft (oder kürzlich getestet oder dank überstandener Erkrankung immun) ist, wird bereits im Planungsstadium als Tool der Ungerechtigkeit gebrandmarkt. Ein solcher Pass könnte Erleichterungen beim Reisen oder auch bei – nicht notwendigen – Aktivitäten wie dem Besuch von Restaurants oder Fitness-Centern mit sich bringen. Kann man in diesem Fall von Privilegien der geimpften Passinhaber oder der Diskriminierung nicht geimpfter Personen sprechen?

Richtig ist, dass wir weit davon entfernt sind, dass sich jeder demnächst impfen lassen kann. Die überwältigende Mehrheit wird demnach in absehbarer Zeit nicht in den Genuss eines Grünen Passes und dessen Vorteilen kommen. Aber wenn Einschränkungen, die nötig sind, um die Pandemie zu beherrschen, für Leute aufgehoben werden, bei denen diese Einschränkungen keinen Sinn ergeben, dann hat das prinzipiell nichts mit Privilegien oder Diskriminierung zu tun. Es sei denn, die Impftermine würden auf diskriminierende Weise vergeben, worauf nichts hindeutet.

Sicherheitsbestimmungen, die auf Basis von nachvollziehbaren Kriterien manchen Leuten Zugang gestatten und anderen nicht, sind wahrlich nichts Neues: Wer in ein Land reisen möchte, in dem Gelbfieber grassiert, muss bei der Einreise seit jeher eine Gelbfieber-Impfung vorweisen. Wer keinen C-Führerschein hat, darf kein schweres Fahrzeug lenken. Nichtschwimmer dürfen nicht ins tiefe Becken.

Ob die Beschränkungen für die Nichtgeimpften tatsächlich erforderlich sind, müssen die Gesundheitsbehörden ohnehin belegen. Das taugt nicht als Einwand gegen den Impfpass, sondern allenfalls gegen die getroffenen Maßnahmen. Die Aufhebung jeglicher Maßnahmen für Personen, die nachweislich weder gefährdet sind, noch jemanden gefährden können, ist logisch.

Wie ungerecht ist unsere Welt bei der Verteilung der Impfungen? Zunächst ein unbestreitbares Faktum: Sie ist tausendmal gerechter, als sie es früher war. In der Ära vor Demokratie und Rechtsstaat wäre der Zugang zu rettenden Impfungen fraglos ein Privileg der Reichen gewesen. Heute drohen in New York Strafen bis zu einer Million Dollar, wenn Impfungen entgegen den Regeln an Leute, die etwa dafür bezahlen, verabreicht werden.

Dennoch zeigen Statistiken, dass in den USA weiße Bürgerinnen und Bürger in höherer Zahl zu den Impfstationen kommen als afroamerikanische – auch da, wo weitaus mehr Afroamerikaner leben. Das liegt zum Teil an technischen Hindernissen – wie einfach und rasch funktioniert die Anmeldung –, aber auch an einer Impfskepsis, die unter Afroamerikanern weiter verbreitet ist. Einer der Gründe dafür scheint zu sein, dass Afroamerikaner in der Vergangenheit auf skandalöse Weise für medizinische Tests zwangsverpflichtet wurden. Berüchtigt ist eine Syphilis-Studie in den 1930er-Jahren, bei der man erkrankte Afroamerikaner sterben ließ, obwohl es damals bereits Heilungsmöglichkeiten gab.

Der Staat von heute schafft kein vergleichbares Unrecht, aber er ist dafür verantwortlich, dass keine gesellschaftliche Gruppe zurückbleibt. Das gilt auch international. Und das Bemühen verdient Anerkennung: Am vergangenen Mittwoch traf die erste Impfstofflieferung im westafrikanischen Ghana ein, organisiert im Rahmen des Programms Covax der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Manche Frage der Gerechtigkeit bleibt hingegen politisch und ethisch umstritten. Büßt die junge Generation, um die alte zu schützen? Und folgt daraus, dass man zur Vermeidung dieses Unrechts die Alten – und nur sie – dazu auffordern kann, zu Hause zu bleiben? Die französischen Verbände für Geriatrische Medizin wehren sich gerade heftig gegen diese Idee. Das Alter zum Kriterium für einen Lockdown zu machen, widerspricht dem Gerechtigkeitsgefühl, zumal diese Maßnahme zeitlich unlimitiert sein müsste.

Oder: Ist es ungerecht, dass Männer bisher stärker von Corona-Hilfen profitieren als Frauen? Wenn Männer häufiger in Kurzarbeit geschickt werden und deshalb von Förderungen profitieren, ist das zunächst einmal bestimmt kein Privileg. Wenn Frauen andererseits häufiger arbeitslos werden, verlangt das nach speziell auf sie zugeschnittenen Arbeitsmarktprogrammen. Sollen Unterstützungen geschlechterparitätisch verteilt werden?

Eine Pandemie ist verdammt ungerecht. Gerechtigkeit sucht und findet man im Dialog und im Abwägen, das hat sich seit Sokrates nicht geändert. Wer einen Impfpass oder sonst irgendeine Maßnahme zur Pandemiebekämpfung einführen will, muss nicht nur erklären, warum dies epidemiologisch Sinn ergibt, sondern auch, warum das so gerecht ist.

Nach der viel debattierten Freiheit jetzt also die Frage der Gerechtigkeit. Das Virus zwingt uns unbarmherzig, uns unsere Werte klarzumachen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur