Robert Treichler: Ski Unheil!

Ein Alpenraum, fünf Regierungen, keine gemeinsame Lösung für den Wintertourismus.

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Beginnen wir mit ein wenig Überheblichkeit (die verträgt sich auch ausgezeichnet mit Social Distancing, aber das nur nebenbei).

Also: Was haben wir gelacht, wie bescheuert die Amerikaner unter ihrem Bald-nicht-mehr-Präsidenten Donald Trump die Coronavirus-Pandemie zu bekämpfen versuchen! Jeder Bundesstaat macht, was er will, und das seit Ausbruch der Krise. Als etwa die erste Welle über die USA hinwegrollte, verhängten viele Bundesstaaten einen Lockdown. Aber eben nicht alle. Und so wurden im April in South Dakota Ausgangssperren erlassen, während das benachbarte North Dakota dies nicht für nötig hielt. Hingegen gilt derzeit in South Dakota Maskenpflicht, während North Dakota darauf verzichtet. Verrückt, nicht? Der nächste Präsident, Joe Biden, hat bereits angekündigt, landesweite Regeln zu erlassen, um die Pandemie besser in den Griff zu bekommen. Wurde auch Zeit.

Wir in Europa hingegen halten uns alle streng an wissenschaftliche Erkenntnisse, wir nennen das nicht ohne Stolz „evidenzbasierte Entscheidungen“. Nehmen wir einen konkreten Fall, um darzulegen, wie das läuft: den Wintertourismus.

Der findet in Europa vorwiegend in den Alpen statt, namentlich in den Staaten Österreich, Deutschland, Italien, Schweiz und Frankreich. An dieser Stelle eine winzige Dosis Distance Learning: North Dakota und South Dakota haben eine Fläche von jeweils knapp unter 200.000 Quadratkilometern; der Alpenraum erstreckt sich über eine Fläche von rund 200.000 Quadratkilometern). Selbstverständlich achtet jede damit befasste Regierung genau auf die Entwicklung der Pandemie, und so kommt es zu folgendem Ergebnis: Frankreich, Italien und Deutschland halten die Skiliftanlagen geschlossen, die Schweiz nimmt sie in Betrieb, und Österreich kündigt an, sie demnächst öffnen zu wollen, wenn dies aufgrund der Infektionszahlen möglich ist.

Hm. Was ist daran nun evidenzbasiert, wenn im Alpenraum fünf Regierungen zu völlig konträren Schlüssen kommen? Ganz einfach: Die österreichische Tourismusministerin Elisabeth Köstinger verspricht, dass die österreichische Bundesregierung unter Einbeziehung österreichischer Experten das Infektionsgeschehen in Österreich genau beobachtet und daraus für die österreichischen Wintersportorte die entsprechende Konsequenz zieht.

Das klingt überzeugend, außer man zieht in Betracht, dass nicht nur Österreicher, sondern Leute aus allen möglichen Ländern nach Österreich zum Skifahren kommen und somit für die Beurteilung der Lage nicht ausschließlich die Infektionszahlen der österreichischen Bevölkerung ausschlaggebend sind.

In Wahrheit muss die Entscheidung, ob man in diesem Winter mitten in der zweiten Welle der Pandemie Wintertourismus ermöglichen oder untersagen soll, von allen Alpen-Staaten gemeinsam getroffen werden. Alles andere ist ebenso idiotisch wie die Massenveranstaltungen des Spring Break, die im Frühling in Florida junge Leute aus allen Teilen der USA anzogen, während in ihren Heimatbundesstaaten zum Teil Ausgangssperren in Kraft waren.

Dennoch hält Bundeskanzler Sebastian Kurz eine internationale Abstimmung für „übertrieben“. Um zu illustrieren, was „international“ in diesem Zusammenhang heißt: Vom italienischen Bozen in den österreichischen Wintersportort Sölden sind es 186 Kilometer. Eines der größten Wintersportzentren der Alpen, „Les Portes du Soleil“, befindet sich grenzüberschreitend in Frankreich und der Schweiz und wirbt mit einem gemeinsamen Skipass und folgendem Spruch: „Wie kann man wissen, ob man sich gerade in Frankreich oder der Schweiz befindet ? Ganz einfach: Hören Sie auf den Akzent des Personals an den Liftanlagen!“ Oder orientieren Sie sich am Infektionsgeschehen, das an den Schweizer Liften gänzlich unproblematisch ist, während es wenige Meter weiter die französischen Lifte lahmlegt.

So beharrt jede Regierung auf ihrer Interpretation des aktuellen Stands der Pandemie, obwohl sich die Bevölkerung beim Skifahren fröhlich durchmischt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder verweist warnend auf die Zahl der Covid-19-Todesfälle, Ministerin Köstinger erzählt begeistert von Sicherheitskonzepten, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hält eine Öffnung in den Weihnachtsferien für „unmöglich“.

In einer Pandemie sind Nationalstaaten keine abgekapselten Monaden. Bestes Beispiel ist der Fall Ischgl, der europaweite Bedeutung erlangt hat. Auch in der aktuellen Debatte um Öffnung oder Schließung des Wintertourismus kommt kaum ein Medienbericht ohne einen Verweis auf den Tiroler Wintersportort aus. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ erinnert an „Le Kitzloch“.

Dass es in einem gemeinsamen Europa schwierig ist, sich auf einheitliche Steuersätze oder  Sozialhilfen zu einigen, ist klar. Dass aber nationale Regierungen angesichts einer grassierenden Pandemie keine internationalen Lösungen anstreben, ist verantwortungslos. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte haben zu einem abgestimmten Vorgehen aufgerufen. Österreich sollte sich dem nicht verweigern.

Und unsere Überheblichkeit gegenüber den USA war übrigens immer schon unangebracht. Nicht erst seit Mikaela Shiffrin.

 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur