Leitartikel

Gott schütze den Anachronismus!

Wie Queen Elizabeth II. ihrer paradoxen Aufgabe Glorie verlieh.

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Queen Elizabeth II. habe die ihr auferlegte Pflicht mit Hingabe, Würde und Integrität bis zu ihrem Tod am Donnerstag, dem 8. September, erfüllt, darin sind sich alle maßgeblichen Stimmen der Welt einig. Ich sehe keinen Grund, dieser Einschätzung zu widersprechen. Bloß: Worin bestand ihre Aufgabe eigentlich? Diese Frage ist keineswegs banal.

Wer Nachruf um Nachruf liest, kommt am Ende zu einem paradoxen Ergebnis: Die bekannteste Frau der Welt, von der es zahllose Biografien und Porträts gibt und die ihr Leben lang im Licht der Öffentlichkeit stand, schaffte es, ein Mysterium zu bleiben. Sie hat, von rituellen Ansprachen abgesehen, in sieben Jahrzehnten kaum ein halbes Dutzend Reden gehalten, niemals ein Interview gegeben und kein Statement veröffentlichen lassen, das man politisch nennen könnte. Sie verfolgte von Anfang an ein Ziel, das über allem stand: Niemals durfte  sie in eine Kontroverse geraten, denn so hätte sie unweigerlich einen Teil ihres Volkes auf ihrer Seite und den anderen gegen sich gehabt. Um dies zu verhindern, musste sie sich jeglicher deutlich geäußerten Meinung enthalten.

Auf lange Sicht wohnt der Monarchie ein prinzipieller Konstruktionsfehler inne.

Jede Woche empfing sie den jeweiligen Premierminister oder die Premierministerin, um sich informieren zu lassen, und allein dieser Schatz an Wissen aus erster Hand ist unermesslich. Elizabeth II. hütete ihn und nahm ihn ebenso mit ins Grab wie ihre Einschätzungen aus den Begegnungen mit allen US-Präsidenten (mit Ausnahme von Lyndon B. Johnson) und Päpsten sowie zahllosen ausländischen Regierungs- und Staatschefs ihrer Amtszeit.

Die Queen vereinte ihre Allgegenwart als öffentliche Figur, Namensgeberin jeder Institution des Landes (Her Majes-ty’s Passport Office, Her Majesty’s Prison Service …), Konterfei auf Briefmarken, Münzen und Geldscheinen mit der völligen Abwesenheit ihrer Person in allen Auseinandersetzungen. Während ihrer Amtszeit trat das Vereinigte Königreich 1973 der Europäischen Union (damals EG) bei und 2020 wieder aus ihr aus. Die Königin thronte in jedem Sinne des Wortes über den Dingen.

Nur so konnte sie das Paradox überwinden, dass sie als Staatsoberhaupt keinerlei formellen Einfluss auf die politischen Geschicke ihres Landes nehmen konnte. Die Königin herrscht, aber sie regiert nicht, lautet das Diktum. Zu Beginn jeder Parlamentssaison trug sie die Rede vor, die der Premierminister verfasst hatte und in der die großen Projekte der Regierung skizziert waren. Elizabeth II. verstand es, diesen seltsamen Akt, der eigentlich ihre völlige Machtlosigkeit veranschaulicht, in ihr Bild einer Regentschaft zu integrieren, die wohlwollend die Demokratie walten lässt. „Meine Regierung“, „meine Minister“, „meine Lords und meine Mitglieder des Unterhauses“ nannte die Königin die gewählten Repräsentanten. Ein offenkundiger Anachronismus, dem Elizabeth II. durch ihre lebenslang geübte politische Zurückhaltung Harmlosigkeit und Glorie verlieh.

Diese Zurücknahme allein hätte nicht gereicht, um Elizabeth II. zu der Person werden zu lassen, mit der sich ihre Untertanen (auch dieser Begriff ist ebenso anachronistisch wie korrekt) so sehr identifizierten, dass der überall geäußerte Schmerz über ihren Tod kein bisschen gekünstelt wirkt. Die Queen verfügte über die Gabe, trotz des engen Korsetts, in dem die Regentschaft sie festgezurrt hielt, mit wenigen Worten und kleinen Gesten Menschlichkeit und Haltung auszudrücken. Gerade weil sie als Königin einer anderen Welt angehörte, stand sie allen gleichermaßen nahe. So jedenfalls empfand es die große Mehrheit.

Was folgt aus der Würdigung des Wirkens und der Persönlichkeit von Queen Elizabeth? Die pragmatische Einsicht, dass der nur historisch zu erklärende Anachronismus einer Monarchie unter glücklichen Umständen auch heute noch funktionieren kann. Nationale Identität zu stiften, ist kein rationaler Vorgang. Wir in Österreich, die wir unsere Habsburger gänzlich ohne Reue für immer abgesetzt haben, mögen ungläubig nach London blicken, wo ein BBC-Moderator zugesteht, dass möglicherweise „nicht alle Zuseher Royalisten“ seien. Das britische Königshaus hat eine andere Geschichte und deshalb – noch – eine Gegenwart.

Hat es auch Zukunft? Vorerst mal ja. Charles III. ist dem Volk bekannt, er ist nicht so unumstritten wie es seine Mutter war, aber er ist wohl zu alt, um ungestüm radikale Änderungen zu riskieren. Doch auf lange Sicht wohnt der Monarchie ein prinzipieller Konstruktionsfehler inne. Die Auswahl der Personen dem Zufall der Geburt anzuvertrauen, verknüpft mit lebenslanger Amtszeit, führt irgendwann unweigerlich zur Regentschaft einer Person, die über keine der an Queen Elizabeth II. geschätzten Eigenschaften verfügt. Spätestens dann verliert der Anachronismus nicht nur seine Glorie, sondern auch seine Berechtigung.

Es ist nicht pietätlos, dies in den Tagen nach dem Tod von Queen Elizabeth II. festzustellen. Sie hat sich als fähig erwiesen, die Paradoxien ihrer Aufgabe vergessen zu machen. Andere werden kommen, die dies nicht vermögen.

Gott schütze den Anachronismus! Aber nicht ewig.

 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur