Robert Treichler
Leitartikel

Robert Treichler: Warum der Westen siegen muss

Das auszusprechen, hat nichts mit Kriegslüsternheit zu tun.

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Wir müssen diesen Krieg gewinnen.

Seltsamerweise wird dieser Satz im Westen nicht ausgesprochen. Das hat mehrere Gründe. Erstens ist der Westen bemüht, nicht als Kriegsteilnehmer im militärischen Sinn zu gelten. Die Vermeidung einer direkten kriegerischen Konfrontation der NATO mit Russland  – und damit eines Weltkrieges – ist einer der wichtigsten Pfeiler der Strategie der westlichen Allianz.
Zweitens beinhaltet der Satz im Umkehrschluss die Möglichkeit der Niederlage. Hat der Westen verloren, wenn die Ukraine am Ende kapitulieren sollte? Indem der Westen das Ziel eines „Sieges“ nicht ausspricht, bewahrt er sich Interpretationsspielraum.

Drittens klingt der Satz in unseren Ohren archaisch, martialisch, barbarisch. Unsere Kultur propagiert das Ziel des Friedens, nicht das des Sieges. profil-Kolumnistin Elfriede Hammerl formulierte in ihrem Kommentar „Rückkehr des Heldentums“ (profil Nr. 12) ihr Unwohlsein angesichts einer Renaissance von „tödlichem Heldentum“ und „archaischer Mannesehre“.

Alle drei Argumente dafür, das Wort „Sieg“ nicht in den Mund zu nehmen, haben etwas für sich. Nein, der Westen sollte Putin keinen Vorwand für militärische Provokationen in Richtung NATO liefern. Nein, die Festlegung, welches Szenario eine Niederlage darstellen würde, wäre nicht hilfreich. Und nein, Kriegslüsternheit kann niemand brauchen.

Aber dennoch: Wenn die Ukraine am Ende dieses Krieges ein souveräner Staat ist und die gewählte Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj im Amt bleibt, dann wäre das ein Sieg der Ukraine und des Westens. Und genau in diesem Sinne muss dieser Krieg gewonnen werden. Der Grund dafür sind nicht präzivilisatorische Motive und toxische Männlichkeit, sondern das, was man „Weltordnung“ und „Sicherheitsarchitektur“ nennt. Wenn nämlich Putin diesen Krieg gewinnt und die Ukraine zu einem Vasallenstaat Russlands umfunktioniert, dann kann sich Europa nicht mehr sicher fühlen. Es würde bedeuten, dass nicht nur die militärische Abschreckung verloren gegangen ist, sondern dass auch der Versuch, eine neue Form der wirtschaftlichen Abschreckung zu etablieren, gescheitert ist.

Polens Außenminister Zbigniew Rau schreibt in einem Kommentar für das Portal „Politico“: „Wenn Russland im Krieg gegen die Ukraine als Sieger hervorgeht, wird die Anwendung von Gewalt ein neuer Standard in der internationalen Politik.“

Vor diesem Hintergrund müssen alle Anstrengungen der westlichen Allianz betrachtet werden – auch die, zu denen sie sich bisher nicht durchringen konnte. Etwa die umstrittene Frage eines Embargos für russisches Gas. Bleiben die Verträge mit Russland aufrecht, dient dies der Versorgungssicherheit – allerdings im schlimmsten Fall um den Preis der Sicherheit der Grenzen in Europa. Was das konkret bedeutet, zeigen die Bilder aus Charkiw und Mariupol.

Wir sollten keine Angst vor dieser Art von Heldentum haben.

Wladimir Putin und seinesgleichen würden aus dem Sieg Russlands gegen die Ukraine den Schluss ziehen, dass eine „militärische Spezialoperation“ ein probates Mittel der internationalen Politik ist. Tut ein Staat nicht, was der autoritäre große Nachbar will, marschieren die Truppen ein.

Das ist es, was der Westen verhindern muss, und das kann er nur mit einem Sieg. Das auszusprechen, ist kein Rückfall in die Barbarei, sondern eine elementare geopolitische Wahrheit des Jahres 2022.

Der Vorwurf, die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten kippten angesichts der russischen Invasion in eine Art von Kriegstaumel, geht ohnehin ins Leere. Die Ukraine führt einen Verteidigungskrieg auf eigenem Territorium, sie ist zahlenmäßig weit unterlegen, und sie hat das Völkerrecht auf ihrer Seite. Der Westen unterstützt sie mit Abwehrwaffen, und niemand verschwendet einen Gedanken an einen Rachefeldzug gegen Russland.

Auch die Helden, die dieser Krieg hervorbringt, entsprechen nicht dem Klischee des Militarismus. Selenskyjs Heldentaten sind seine Reden vor den Parlamenten des Westens und die Tatsache, dass er und seine Ehefrau Olena Selenska angesichts des Einmarsches russischer Truppen nicht geflohen sind. Auch die russische TV-Redakteurin Marina Owsjannikowa, die ihre Existenz aufs Spiel setzte, um live im russischen Staatsfernsehen die Propagandalügen anzuprangern, ist eine Heldin, ebenso weitere Mitarbeiter russischer Medien, die ihre Arbeit niedergelegt haben, und nicht zuletzt Ukrainer und Ukrainerinnen, die bereit sind, ihr Land zu verteidigen.

Wir sollten keine Angst vor dieser Art von Heldentum haben. Und auch keine Angst davor, auszusprechen, was das Ziel des Westens sein muss. Der Sieg.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur