Total neutral
Jetzt war es vergangene Woche auch schon wieder 70 Jahre her, dass die Russen endgültig mit der Reblaus weich gemacht wurden und einfach nicht mehr anders konnten, als dem so charmanten Österreich seinen Staatsvertrag zu bescheren. „Österreich ist frei!“, deklamierte Julius Figl oder wie der hieß am Balkon von Schönbrunn, die Jüngeren unter uns werden das sicherlich schon einmal auf TikTok nicht gesehen haben.
Dass der Nationalfeiertag dennoch nicht (auch) am 15. Mai, sondern (nur) am 26. Oktober gefeiert wird, liegt einerseits daran, dass unsere ausbeuterischen Unternehmerbonzen den geknechteten arbeitenden Massen natürlich keinen weiteren Feiertag gönnen wollten. Und andererseits musste ja damals Ende Oktober bekanntlich der letzte Besatzungssoldat Österreich verlassen, er hieß Oleg Gerassimov, und als er bei Nickelsdorf die Grenze Richtung Osten überquerte, sprach er einen der berühmtesten Sätze der Geschichte aus: „Es ist nur ein kleiner Schritt für einen Menschen – aber ich fahre trotzdem lieber mit dem Auto.“
Unmittelbar danach wurde Österreich „immerwährend“ neutral, nach der überraschend kurzen Haltbarkeitsdauer des tausendjährigen Reichs wollte man zeitmäßig auf Nummer sicher gehen. Und nachdem diese Neutralität neben dem Schnitzel, Córdoba und dem 13. und 14. Monatsgehalt zu einer der tragenden Säulen der österreichischen Identität geworden ist, wurde auch vor allem sie rund um das runde Staatsvertragsjubiläum besungen. Weil uns diese Neutralität ja bekanntlich so toll beschützt hat, nur wegen ihr gab es ja seitdem keinen Krieg mehr in Österreich. Da können Sie fragen, wen Sie wollen. Heinz Fischer zum Beispiel. Der glaubt das wirklich. Gut, jetzt war zwar seit 80 Jahren auch kein Krieg in Deutschland oder Italien oder Norwegen – und die sind nicht neutral. Aber: Die hatten bloß Glück! Nur bei uns ist es diese hervorragende Idee, die wir hatten – und die wir konsequent leben und weiterverfolgen.
Altbundespräsident Fischer erklärte denn auch im Interview mit dem „Standard“, wie genau dieser undurchdringliche Schutzpanzer der Neutralität im Fall des Falles funktionieren würde: „Die Neutralität hat keine Divisionen, die uns schützen, sie hat keine Maschinengewehre, sie hat keine Panzer. Aber es ist ein Status, der allen Ländern bekannt ist und den wir mit Gewissen und korrekt und fair beibehalten haben.“ Jeder Staat müsse sich daher überlegen, ob er ein neutrales Land wie Österreich angreifen würde, in dem noch dazu internationale Organisationen wie die UNO oder OPEC ihren Sitz hätten. Dies brächte nämlich „viel mehr Prestigeverlust und Vorwürfe und Anklagen in internationalen Gremien, als es einen Gewinn bringt“.
Genau so ist es natürlich und nicht anders. Wenn denn Wladimir Putin beschließen würde, sich einen sehr permanenten Zweitwohnsitz in Kitzbühel zu erobern, hätte er rein gar nichts davon. Im Gegenteil, er würde sich ja gar nicht mehr auf die Straße trauen vor lauter Ächtung in den internationalen Gremien! Er ist ja schon jetzt permanent deprimiert, weil er überall geschnitten und zum Beispiel bei der Liste der neuen Kandidaten fürs Unesco-Weltkulturerbe vorher nicht konsultiert wird. Der Schurke würde sich das also wirklich mehr als zwei Mal überlegen.
Abgesehen davon ist Österreich praktischerweise umgeben von NATO-Staaten, die Österreich selbstverständlich alle gerne mitverteidigen, einfach weil wir so fesche Burschen sind. Wobei es angesichts der momentanen politischen Verhältnisse in Ungarn und der Slowakei nicht gänzlich auszuschließen wäre, dass diese russophilen Falotten die Verteidigung unserer Freiheit ein wenig schleißig anlegen könnten. Das ist ungerecht, nicht zuletzt, weil eine Umfrage vor etwas mehr als einem halben Jahr gezeigt hat, dass die Österreicher umgekehrt sehr wohl solidarisch sein würden, wenn sie denn könnten. Denn nur 57 Prozent lehnen demzufolge jede Unterstützung für ein angegriffenes EU-Land kategorisch ab! Die Frage wird sich aber ohnehin nie stellen, weil wir ja neutral sind. Und darüber hinaus militärisch nicht einmal Liechtenstein unter die Arme greifen könnten. Auch das wissen die klugen Österreicher, darum wären auch nur 28 Prozent bereit, das eigene Land im Kriegsfall mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Wir sind ja auch nicht deppert.
Und was Heinz Fischer betrifft, sind die Österreicher mit ihm einer Meinung – und auch wieder nicht. Tatsächlich ist nur ein Drittel überzeugt, dass uns die Neutralität wirklich schützt. Aber zwei Drittel wollen sie dennoch beibehalten. Das sagt vielleicht nicht alles über uns. Aber einiges.