Das Unvernünftige des Schenkens

Gemeinsam hetzen wir dem Jahresfinale entgegen. Ist da Raum und Sinn für diese besondere Zeit in einer besonderen Zeit?

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Vorweihnachtsstress. Sie auch? Ja? Keine Zeit? Schon gar nicht zum aufmerksamen Lesen. Okay. Vielleicht reißen Sie die Seite heraus und lesen sie zu Weihnachten. So mach ich es gerne. Ob die Kolumne es verdient? Weiß ich nicht. Ich bin immer unsicher bei meinen eigenen Texten. Aber ich kann Ihnen versprechen, ich habe Sie beim Schreiben vor mir gesehen, wie Sie in dieser Crunchtime des Jahres vielleicht noch etwas hineinquetschen; wie die Aufmerksamkeit zu lesen konkurriert mit dem schlechten Gewissen der To-do-Liste, was alles noch bis Weihnachten erledigt werden muss. Bis zum großen Atemholen.

Weihnachten – immer noch eine besondere Zeit im Jahr, seit die Osterruhe und das Sommerloch sich aufgelöst haben. Aber Weihnachten, da wird noch gemeinsam die Pausetaste gedrückt. Da ist Zeit. Zeit und Raum für Aufmerksamkeit. Wir leben in einer Zeit, in der Aufmerksamkeit die knappste Ressource geworden ist. Nicht, weil wir zu viel zu tun hätten, sondern weil unser digitales Ökosystem darauf optimiert ist, uns ständig von uns selbst und voneinander abzulenken. Vielem wird gefolgt, wenig wahrgenommen.

„Adventus“, lateinisch „Ankunft“, ist eine Übersetzung der altgriechischen „parousía“, „gegenwärtig sein“. Interessanter Übersetzungstwist. Vielleicht müssen wir gegenwärtig sein, um ankommen zu können. Geistesgegenwärtig und da sein.

Weihnachten ist das Fest des Schenkens. Heute bekommt das Schenken eine fast unverschämte Bedeutung. Ich meine nicht das gängige Schenken, das ritualisierte „Was soll ich dir kaufen?“, das in Wahrheit oft die Frage meint: „Wie kann ich schnell etwas erledigen, das Nähe simuliert?“ Ich meine das andere Schenken: sich schenken. Die seltene Gabe der Aufmerksamkeit, die nicht geteilt, sondern ungeteilt ist. Ein echtes „Ich bin da“ – nicht in der Statusmeldung.

Es gibt diese unscheinbaren Momente, in denen jemand wirklich zuhört. Ich werde gesehen. Ich werde gehört. Zuhören ist nicht die Pause zum eigenen Atemholen, bis man wieder reden kann. Jemand sieht mich – nicht funktional, sondern als echtes Gegenüber. Und plötzlich, ohne materielles Geschenk, hat sich etwas verändert. Auf beiden Seiten.

Vielleicht liegt darin die aktuelle Provokation dieses Schenkens: Es verweigert sich der Logik, auf der große Teile unserer Gegenwart beruhen: die Welt als Nullsummenspiel zu betrachten. Mein Gewinn ist dein Verlust. Wenn du mehr bekommst, bleibt für mich weniger übrig. Dieses Denken hat längst auch Bereiche erfasst, in denen es gar nichts verloren hat: Beziehungen, Anerkennung, Vertrauen.

Was macht das in einem politischen Nachrichtenmagazin? Okay, es wird Weihnachten, ist aber ein bisschen pathetisch. Was ist da „politisch“?

Das Nullsummendenken, das unsere Gegenwart prägt, ist nicht bloß ein individuelles Missverständnis. Es ist ein Machtinstrument. In einer ökonomisierten Öffentlichkeit, die Konkurrenz als Naturgesetz verkauft, ist jede Form des absichtslosen Schenkens subversiv. Echte Aufmerksamkeit durchbricht die Logik einer ökonomisierten Welt, die Menschen auf Rollen, Nutzen und Produktivität reduziert. In diesem Denken ist alles Konkurrenz: Lebensräume, Aufmerksamkeit, Würde. Deshalb ist jede Form des Schenkens – echtes Zuhören, Zeit, Zuwendung, ein aufrechter Dialog – eine fast schon subversive Handlung.

Es gibt eine alte Erzählung, die uns jedes Jahr im Winter berührt, weil sie genau das beschreibt: Das Entscheidende kommt nicht aufdringlich, laut und nicht im hyperventilierenden Superlativ. Eine Geburt in einer Herberge, die keine war. Ein Kind, das nichts besitzt und doch alles bedeutet. Und Menschen, die nichts haben, bringen das Wertvollste, was sie besitzen: ihr Dasein. Ihre Aufmerksamkeit. Ihr Staunen. Sie sehen, was wesentlich ist.

Es ist, wenn man sie des Religiösen entkleidet, die älteste Geschichte über das Schenken ohne Berechnung. Über ein Licht, das heller wird, wenn man es nicht für sich behält. Über das Paradox, dass man etwas gewinnt, gerade weil man gibt. Dieses Motiv taucht in allen Kulturen auf – als Gastfreundschaft, als Barmherzigkeit, als Solidarität. Und meint immer das Wesen des menschlichen Zusammenlebens, das im Englischen treffend formuliert ist: „We make a living by what we get. We make a life by what we give.“

Stefan Wallner

Stefan Wallner

war Generalsekretär der Caritas Österreich und von 2009 bis 2016 Generalsekretär der Grünen. Danach war er bis 2020 Head of Brand Management and Company Transformation bei der Erste Group. Heute ist er Geschäftsführer des Bündnis für Gemeinnützigkeit – der 2022 gegründeten Interessenvertretung des gemeinnützigen Sektors und der Freiwilligenorganisationen.