Sven Gächter

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Es blieb – wie so oft – dem Boulevard vorbehalten, den tiefsten Kern der Wahrhaftigkeit aus einem kalten, komplexen Sachverhalt herauszuschälen. „Ohne Geheimnis, bitter oder süß, ist die Welt und die Seele so öd“, barmte „Krone“-Kolumnistin Marga Swoboda: „Weihnachten, so öd. Kinderaugen? Denen haben sie auch schon den Glanz gestohlen.“ Julian Assange, dem berüchtigtsten Hacker der Welt, werden derzeit jede Menge schwerwiegender Un­taten vorgeworfen, aber dass er sich an Weihnachten, der menschlichen Seele und glänzenden Kinderaugen vergehe, dürfte selbst ihm neu und unheimlich sein.

Durchaus kalkuliert dagegen, weil nach allen Regeln der konventionellen massenmedialen Kunst inszeniert, war die weltweite Aufregung um eine Viertelmillion geheimer Berichte der US-Diplomatie, die vergangene Woche auf WikiLeaks publik gemacht wurden. Assange ist das Gesicht dieser 2006 gegründeten, auf die Verbreitung anonymer Dokumente spezialisierten Internet-Plattform, ein Megastar der klandestinen Gegenöffentlichkeit im World Wide Web, dessen phantomhafte Aura dadurch getrübt wird, dass ein internationaler Haftbefehl gegen ihn läuft – nicht etwa weil er sämtliche Regierungen der nördlichen Hemisphäre in Angst und Schrecken versetzt, sondern weil er unter dem Verdacht steht, zwei Schwedinnen vergewaltigt zu haben (wobei es der Politik sicherlich zupasskommt, die Auseinandersetzung mit Assange auf eine profanere Ebene zu verlagern).

Nüchtern betrachtet, dürfte die Hysterie um den jüngsten WikiLeaks-Scoop weniger der inhaltlichen Brisanz der Dokumente als vielmehr deren klatschträchtigem Indiskretionspotenzial geschuldet sein: Es ist gleichermaßen prickelnd und tröstlich zu erfahren, dass die US-Diplomatie bei der charakterlichen Einschätzung von weltpolitischen Koryphäen wie Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy, Guido Westerwelle, Kim Jong-il, Muammar al-Gaddafi oder Horst Seehofer den gesunden Menschenverstand walten lässt und hinter vorgehaltener Hand auch nur wiedergibt, was unbefangen-heitere Beobachter mit bloßem Auge erkennen. Die Pikanterie liegt darin, dass die Betroffenen nun sozusagen amtlich dem allgemeinen Gespött preisgegeben werden und sich immerhin glücklich schätzen können, vorerst nicht ihrerseits mit einschlägigen Unflätigkeiten zitiert worden zu sein. Den einzigen handfesten Skandal in dem überbordenden Informationswust stellt die Weisung von US-Außenministerin Hillary Clinton an die UN-Diplomaten dar, ihre internationalen Kollegen systematisch auszuspionieren, bis hin zur Beschaffung von persönlichen Kreditkartendaten. Hier erhebt der imperialistische Kontrollwahn sein zutiefst hässliches Haupt.

Über die schönen und hässlichen Seiten von WikiLeaks wiederum wird derzeit eine erregte Debatte geführt, deren Dimension weit über bassenapolitische Niederungen hinausweist. Es geht um die dem Medium Internet immanente Problematik der Informationsfreiheit: Wo beginnt und wo endet sie? Julian Assange vertritt das in der Hackerszene gängige Credo, dass sie überall beginnt und nirgendwo ­endet. „Die Daten sind frei“, bringt die „Süddeutsche Zeitung“ diese Haltung auf den Punkt und stellt sie in die positivistische Tradition der Aufklärung; Assange sei von dem geradezu missionarischen Furor getrieben, eine absolute ­Offenheit des Wissens herzustellen, und zwar vorsätzlich auch gegen die Interessen großer politischer oder wirtschaftlicher Institutionen, deren Geschäftszwecke in zentralen Bereichen keine Offenheit vertragen.

Und was, bitte, ist schlecht daran, sich maximaler Transparenz zu verschreiben, dem hehren Gegenentwurf zur maximal kontrollierten Informationspraxis traditioneller Machtausübung? Es ist die Selbstherrlichkeit, mit der Assange, stellvertretend für die ungezügelte Freiheitswut der Netzromantiker, agiert; es ist die jeder nachvollziehbaren Selbstkontrolle enthobene Anonymität der Prozesse und somit das Gegenteil von Transparenz; es ist schlicht die originalgetreue Spiegelung vieler Mechanismen, die man zu unterlaufen vorgibt.

WikiLeaks überträgt das Dilemma von sozialen Netzwerken wie Facebook sozusagen auf die geopolitische Ebene: Die Aufhebung jeglicher Privatsphäre (vorausgesetzt, man gesteht auch Staaten eine solche zu, wofür es gute Gründe gibt) bedroht das Grundrecht auf Identität, ob man diese nun individuell oder institutionell definiert – die Folgen können in beiden Fällen vergnüglich, heilsam, aber auch verheerend sein.

Julian Assange hat den investigativen Journalismus nicht neu erfunden. Er hat ihn durch ein Parallelmodell ersetzt, in dem Investigation in Wahrheit keine Rolle spielt. Die Informationen sollen gefälligst für sich selbst sprechen. Man kann das amüsant, wert- oder sonstwie verdienstvoll finden – mit Aufklärung hat es nichts zu tun.

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