Sven Gächter

Sven Gächter Big Brothers

Big Brothers

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Große Brüder sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Früher, in familienstrategisch intakten Zeiten, standen sie für den liebevollen Schutz der nachgeborenen Geschwister. Dann kam George Orwell und verzerrte dieses schöne Sinnbild fürsorglicher Beziehungsfunktionalität ins Perfid-Düstere: In dem antiutopischen Roman „1984“ nannte er den allmächtigen Diktator eines totalitären Überwachungs- und Unterdrückungsstaates ausgerechnet Big Brother. ­Orwell starb 1950; er musste somit die ultimative Reinzeichnung seiner – rückblickend betrachtet – rührend naiven apokalyptischen Gesellschaftsskizze nicht mehr erleben. Vergangenen Donnerstag präsentierte der südkoreanische Elek­tronikproduzent Samsung in London das brandneue And­roid-Smartphone Galaxy S3. Neben den handelsüblichen Feature-Orgien (4,8-Zoll-Display, 8-Megapixel-Kamera, Vierkernprozessor, HD-Amoled-Bildschirm) punktet es mit einigen gespenstischen Innovationen: Nimmt man das S3 in die Hand, beginnt es zu vibrieren, wenn man einen Anruf verpasst haben sollte; das Programm „Buddy Photo Share“ ermöglicht, dass Fotos mit allen darauf Abgebildeten automatisch geteilt werden; und es erkennt nicht zuletzt, ob ­jemand gerade seinen Blick auf das smarte Teufelsphone richtet. Der Kleine Bruder sieht dich, immer und überall – der Große Bruder ruhe in Frieden!

Auf der Konferenz re:pub-lica in Berlin zelebrierten vom 2. bis 4. Mai 4000 Besucher und 270 Vortragende aus mehr als 30 Ländern ein Hochamt des Internets. Der restlos durchdigitalisierte Alltag der Gegenwart wurde in all seinen Facetten und Verwerfungen verhandelt. Anders als bei den früheren Tagungen störten diesmal unüberhörbar ­kritische Töne die perspektiventrunkene Netzschwärmerei. Zwar gibt sich (fast) niemand mehr so vorgestrig und vernagelt, das Internet in Bausch und Bogen zu verteufeln – schließlich ist es von einem praktischen Hilfsmittel für Realitätsabbildung und -verarbeitung zu einem monströsen Realitätsgenerator geworden; doch mittlerweile gilt es nicht mehr als schlechterdings uncool, sich beim Nachdenken und Reden über das Netz auch ­dessen Dysfunktionalitäten zu vergegenwärtigen – zumal sie System haben.

In diesem System hat das Prinzip Mensch laut Digitalromantikern seine entwicklungsgeschichtlich großartigste Ausformung erreicht: das Prinzip USER. Der User verfügt über unbeschränkten Zugang zum gesammelten Weltwissen, grenzenlose Mobilität und die süßeste aller Freiheiten – die Freiheit der permanenten Selbstdarstellung und somit Selbstverwirklichung. Die Geschichte lehrt jedoch, dass es angesichts einer so brutal herausfordernden Option wie Freiheit kaum einen bequemeren menschlichen Reflex gibt, als diese Freiheit gleich wieder aufzugeben, sprich: an ­höhere Instanzen zu delegieren. Im Falle des Users, zumindest des durchschnittlich vernetzten Users, heißen diese Instanzen Google, Facebook, Twitter, Amazon, YouTube und iTunes; sie decken seinen Tageskommunikations- und -konsumbedarf über weite Strecken ab. Den unzweifelhaften Komfort, den der User aus ihren Angeboten zieht, honoriert er leichten Herzens mit einer nahezu lückenlosen Preisgabe seiner Privatsphäre. Die neuen Big Brothers begnügen sich, anders als bei Orwell, nicht damit, nur einen Staat und seine Bevölkerung zu kontrollieren; ihr Einzugsgebiet umspannt den ganzen Globus und möglichst alles, was sich darauf bewegt.

Im ubiquitären Netzrauschen wird eine solche Sicht der Dinge umstandslos als defätistisch, fortschrittsfeindlich und krass unzeitgemäß ausgefiltert, was nichts daran ändert, dass sie im Kern berechtigt ist und immer öfter vertreten wird, von kundigen und aufgeklärten Usern etwa, die nicht nur die schicken Dienstleistungen von einer Handvoll Netzgiganten in Anspruch nehmen, sondern auch auf der Höhe des Geschehens argumentieren wollen. Der Diskurs über das Internet ist in dem Maße endlich spannend und neuralgisch geworden, in dem er nicht allein Technologie-Nerds und Lifestyle-Hedonisten betrifft, weil es um wesentlich mehr als Technologie und Lifestyle geht; es geht – mit allem gebotenen Pathos – um die Rückbesinnung des netzformatierten Users auf seine Eigenschaften, Interessen und Rechte als Mensch, einschließlich der Pflicht, sein Menschenrecht auf überwachungsfreie Individualität einzufordern.

Wenn die Piraten es irgendwann schaffen, ihren Fokus von Copyright-Verhöhnung und Tauschbörsenverherrlichung auf diese gesellschaftlich ungleich ­substanzielleren Fragen zu verlagern, ­haben sie vielleicht das Potenzial, zu einer ernsthaften politischen Kraft zu werden – denn die Politik des Netzes ist viel zu wichtig, um Google, Facebook und RapidShare überlassen zu bleiben.

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