Ein ehemaliger Star-Fußballer outet sich und wird dafür stürmisch gefeiert. Sind wir wirklich so liberal?

Sven Gächter: Na und?

Schwul, na und?

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Die letzten großen Geschichten unserer Zeit werden im Sport geschrieben. Sie bieten alles, wonach eine sensationsversessene Gesellschaft sich quer durch alle sozialen Schichten einträchtig sehnt: Abenteuer, Helden und prickelnde Dramatik, deren Mehrheitsfähigkeit durch Rekordquoten in allen verfügbaren Media-Control-Wertungen beglaubigt wird.

Auch die großen Geschichten des noch vielversprechend jungen Jahres 2014 wurden bisher im Sport geschrieben. Der hoch dekorierte Skispringer Thomas Morgenstern, am 15. Dezember 2013 in Titisee-Neustadt schwer gestürzt, holte bei der Vierschanzentournee mit gebrochenem Finger den zweiten Platz und wurde wenige Tage später im Training für das Skifliegen in Kulm erneut Opfer eines Horrorsturzes. Der Newcomer Thomas Diethart feierte bei seiner allerersten Vierschanzentournee einen souveränen Sieg; über 1,6 Millionen ORF-Zuseher verfolgten das entscheidende Springen in Bischofshofen. Am 7. Jänner gab der Ski-Alpin-Star Lindsey Vonn bekannt, wegen eines gerissenen Kreuzbandes nicht an den Olympischen Winterspielen in Sotschi teilzunehmen.

Noch größer sind nur zwei andere Geschichten: Sie handeln ebenfalls von ehemaligen Spitzensportlern, haben mit Sport im engeren Sinn jedoch nichts zu tun. Der siebenfache Formel-1-Champion Michael Schumacher erlitt am 29. Dezember 2013 bei einem Skiunfall im französischen Méribel ein Schädel-Hirn-Trauma und liegt seither im Koma. Und vergangene Woche ging der frühere deutsche Fußballnationalspieler Thomas Hitzlsperger in einem „Zeit“-Interview mit einem spektakulären Bekenntnis in die Offensive: „Ich liebe Männer.“

Der mediale Niederschlag hatte in beiden Fällen geradezu orkanartige Dimensionen. Während um Schumacher eine Art vorgezogener – und durchaus makabrer– Totenwache inszeniert wurde, sah sich Hitzlsperger von einer Welle kollektiver Ehrerbietung überrollt. „Respekt!“, titelte das Boulevardblatt „Bild“ auf der Frontseite zentimeterdick. Qualitätszeitungen druckten gravitätische Kommentare, TV-Sender änderten den abendlichen Talk-Fahrplan eilfertig, und sogar der Sprecher der deutschen Bundesregierung würdigte das prominente Coming-out mit sozusagen amtlichem Wohlwollen.

Ein Ex-Fußballer mit hochklassigen Karriere-Referenzen (unter anderem Deutscher Meister, 52 Einsätze in der Nationalmannschaft) legt seine Homosexualität offen, und das Publikum applaudiert frenetisch. Die Öffentlichkeit könnte ihre Sensibilität für Toleranz und Vorurteilslosigkeit nicht mustergültiger unter Beweis stellen. Nur, warum ist sie dabei so ungeheuer aufgeregt? Weil sie sich insgeheim immer wieder gern am Sensationswert vermeintlicher Privatangelegenheiten delektiert? Weil sie ihrer Sensibilität für Toleranz in Wahrheit selbst doch nicht ganz traut und deshalb umso lauter und nachdrücklicher davon ablenken muss? Oder einfach, weil sie dankbar dafür ist, nach den in gewisser Hinsicht nicht mehr weiter schlagzeilenfähigen Showgrößen (Hella von Sinnen, Hape Kerkeling), TV-Stars (Ulrike Folkerts, Alfred Biolek, Anne Will) und Politikern (Klaus Wowereit, Guido Westerwelle) endlich auch einen gestandenen Fußballer der kunterbunten Galerie der populären Lesben und Schwulen zuschlagen zu dürfen?

Wenn es ein selbstverständliches Menschenrecht darstellt, frei über die eigene Sexualität zu bestimmen, dann sollte das freie Bekenntnis eines – wenn auch nicht ganz unbekannten – Menschen zu seiner Sexualität eigentlich keine Staatsaffäre sein. Im Fall von Thomas Hitzlsperger ist sie es jedoch ganz offenkundig. Der Grund dafür scheint auf der Hand zu liegen: Fußball gilt als eine der letzten ehernen Bastionen des Machismo, und Homosexualität als entsprechend brisantes Tabu. Nicht zufällig hat Hitzlsperger sich erst nach dem Ende seiner Karriere geoutet, und nicht zufällig ist kein einziger internationaler Spitzenkicker ­offiziell schwul. Wer will es schon riskieren, von Kollegen oder Ultras bei jeder Gelegenheit wegen eines „warmen Passes“ verhöhnt zu werden?

Tatsächlich offenbart der Aufruhr um das Sportler-­Outing ein fundamentales Problem: die anhaltend tief verwurzelte Verklemmtheit der Gesellschaft im Umgang mit Sexualität schlechthin – und sei eine Gesellschaft noch so fortschrittlich und entspannt, verglichen etwa mit Wladimir Putins Russland oder noch repressiveren Staaten. Die Begeisterungsstürme für Hitzlsperger in Deutschland sind die – erfreulich positive und liberale – Ausdrucksform ­eines kulturgeschichtlich tradierten Unbehagens, das sich immer noch nicht verflüchtigt hat, denn sonst wäre die ganze Aufregung unnötig und alle könnten es schulter­zuckend mit dem Bayern-München-Star Arjen Robben halten: „Hitzlsperger ist homosexuell, na und?“

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Sven   Gächter

Sven Gächter