Wir bleiben Charlie

Sven Gächters Mediamarkt: Wir bleiben Charlie

Sven Gächters Mediamarkt

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Am Tag danach gab „Charlie Hebdo“ sich schon wieder kämpferisch. Auf der Website war eine geballte Faust mit spitzem Bleistift abgebildet, dem unverwüstlichen Werkzeug der Karikaturisten. Daneben stand das Erscheinungsdatum der nächsten Ausgabe: Mittwoch, 14. Jänner – „Die Zeitung der Überlebenden“. Ob es sich dabei um Galgenhumor oder eine besonders drastische Form von Traumabewältigung handelte, ist schwer zu beurteilen angesichts der stolzen Tradition des Pariser Wochenblattes, das immer schon mit bedingungsloser Unerschrockenheit auf die Zumutungen der Realität reagierte – und seien sie so mörderisch wie der Terror­anschlag am Mittwoch vergangener Woche, bei dem fast die Hälfte der Redaktion regelrecht exekutiert wurde.

Die beiden Attentäter wollten Rache üben für die zahlreichen Mohammed-Karikaturen, die „Charlie Hebdo“ in den vergangenen Jahren abgedruckt hatte. Die Zeichnungen waren als Provokation gedacht und wurden auch so verstanden, mit den schlimmsten aller denkbaren Folgen für die französischen Satiriker. Sie waren sich ­bewusst, dass sie einen fortgesetzten Tabubruch begingen, weil sie das Projekt der Aufklärung radikal ernst nahmen und dabei eine der zentralen zivilisatorischen Errungenschaften der Neuzeit auf ­ihrer Seite wussten: die Pressefreiheit, die institutionalisierte Variante der Meinungsfreiheit. In liberalen Demokratien gilt sie als ­unveräußerliches Grundrecht und ist folgerichtig oft sogar ver­fassungsmäßig verankert. Den Medien wird gleichsam von Staats ­wegen garantiert, ihren Überzeugungen Ausdruck geben zu dürfen, ohne deswegen offizielle Sanktionen fürchten zu müssen.

Das Selbstverständnis – sozusagen das weltanschauliche ­Geschäftsmodell – von „Charlie Hebdo“ besteht darin, dieses Grundrecht bis zum Äußersten zu strapazieren. Grenzen zu überschreiten, wird nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern mutwillig ­angestrebt, denn die Wahrheit muss es aushalten, zur Kenntlichkeit entstellt zu werden. Der sogenannte gute Geschmack hat dabei ­keine Rolle zu spielen: Er lässt sich nicht objektivieren, bietet kaum demokratiepolitisch relevanten Erkenntisgewinn und genießt deshalb zu Recht auch keinen Verfassungsrang.

In ihrem historischen Ursprung waren Meinungs- und Pressefreiheit Kernforderungen des bürgerlichen Widerstands. Wo und wann auch immer sie sich durchsetzten, mussten sie erst einer repressiven Obrigkeit abgetrotzt werden, die naturgemäß kein Interesse daran hatte, dass breite Schichten der Bevölkerung ihren Dissens ­offen artikulieren konnten. Es ist eine bittere Ironie der Zivilisationsgeschichte, dass die bestialischste Form der Repression heute von einer pseudo-emanzipatorischen Widerstandsbewegung droht: dem Islamismus. Chérif und Saïd Kouachi, die Attentäter von Paris, hatten es auf das Zentrum dessen abgesehen, was die westlichen Gesellschaften bei allen politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen Verwerfungen einzigartig und unzerstörbar macht: die Kraft des freien Denkens. Sie haben zwölf Menschen getötet und ihr Ziel dennoch verfehlt. Wir sind Charlie – und wir bleiben es auch!

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Sven   Gächter

Sven Gächter