Wir sind nicht neutral – und sollten es auch nicht sein

Väterchen Putin läutet bei Europa Sturm. In einem System kollektiver Sicherheit soll und kann man sich nicht neutral verhalten.

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Drohnenschwärme über Polen, Norwegen und Schweden. Cyberangriffe auf Flughäfen, Ausspähungsschiffe in der Ostsee – Desinformationskampagnen und Spionage. Putin greift Europa an, das ist keine Interpretationsfrage mehr. Europäische Staaten, die früher auf militärische Zurückhaltung setzten, haben reagiert: Finnland und Schweden sind der NATO beigetreten. Deutschland investiert massiv in das Militär – Polen hat schon hochgerüstet.

Und wir? Wir halten still. Neos-Außenministerin Beate Meinl-Reisinger hat sich ein Mal getraut, laut über Österreichs Rolle im europäischen Sicherheitskontext nachzudenken. Was folgte, waren Drohungen aus Russland. Ex-Präsident Dmitry Medwedew sprach von militärischen Folgen, sollte Österreich die „Neutralität“ aufgeben. Dabei sollte man intensiv darüber diskutieren, ob der inflationär verwendete Begriff derzeit sicherheitspolitisch mehr verschleiert als schützt, ja überhaupt noch der Realität entspricht.

Wie neutral kann man als EU-Mitglied sein? Soll man sich einfach still verhalten, wenn Freunde angegriffen werden? Wenn wir genau wissen, dass uns nur eine gemeinsame Sicherheitsstrategie schützen kann? Denn diese „Neutralität“ schützt uns im Ernstfall weder vor Raketen, noch vor Erpressung mit Energie, Migration der Cyberangriffe wie man gerade wieder sieht. Neutralität ist kein Schutzschild – sie ist bestenfalls ein außenpolitischer Status. Schlimmstenfalls ein Alibi, das von der Politik nach Belieben benutzt und umgedeutet wird.

Jede Partei tut das ein bisschen anders. Die FPÖ brüllt „Neutralität“ im Parlament vor sich hin, wenn Ukraine-Hilfen diskutiert werden. Man tut so, als würde sich Österreich dann in einen Konflikt hineinziehen lassen, in dem wir in Wahrheit schon stecken. Putin führt einen Krieg auch gegen uns. Wir sind Teil jener westlichen Weltordnung, die er zerstören will.

Die politische Mitte sieht zwar, dass die blauen Argumente eher fadenscheinige Pro-Putin-Mogelpackungen sind, als dass man sich um Österreichs Sicherheit sorgen würde. Denn würde man das ernsthaft tun, dann müsste die Forderung sein, sicherheitspolitisch aufzurüsten – militärisch wie institutionell. Aber die politische Mitte fürchtet sich , in dieses ideologische Minenfeld zu treten. Darum, wenn es um die Neutralität geht: Keine Debatte, keine Reform, keine strategische Weiterentwicklung.

Während sich Europa militärisch koordiniert, lässt Österreich seine Partner im Stich.

Anna Thalhammer

über das falsche Verständnis von Neutralität

Das Ergebnis ist sicherheitspolitische Paralyse. Während sich Europa militärisch koordiniert, lässt Österreich seine Partner im Stich. Man traut sich ja nicht einmal zu diskutieren, was denn innerhalb des Neutralitätsbegriffs derzeit noch alles möglich wäre (Spoiler: Deutlich mehr!). Ein Beispiel: Wir finden zwar, dass die Ukraine ordentlich verteidigt werden soll, waren bisher aber nicht bereit, bei der Entminung zu helfen – obwohl unsere Unternehmen mit ihrer Technologie Expertise haben und das mit der Neutralität freilich vereinbar wäre. Warum nicht? Aus Angst der FPÖ Vorschub zu leisten. Dieses Stillhalten nimmt uns nicht nur die Ukraine übel, sondern auch andere EU-Länder, denen Minen über das Schwarze Meer in ihre Gewässer gespült werden. Wir lassen sie damit allein, gehen aber ganz selbstverständlich davon aus, dass diese Länder im Kriegsfall für uns einstehen.

Noch ein Aspekt: Sicherheitspolitik hat längst wirtschaftliche Konsequenzen. Wer nicht mitmacht, wird abgehängt – bei europäischen Rüstungsinitiativen, bei Förderprogrammen, bei strategischen Industrien. Investoren zögern, wenn der Eindruck entsteht, dass ein Land sicherheitspolitisch passiv bleibt. Und freilich, was wäre dieses Land ohne die Bürokratie: Wer im Rüstungs- und Dual-Use-Bereich tätig ist, der kann sich gleich mit drei Ministerien herumschlagen, wenn es um die Ausfuhr von Gütern geht. Das dauert dann gern auch so lange, dass Aufträge verloren gehen.

Im Krisenfall ist die Abhängigkeit von verlässlichen Partnern keine Theorie, sondern Überlebensfrage. Wir können uns nicht länger wie Zuschauer verhalten. Wer glaubt, sich in einem System kollektiver Sicherheit neutral heraushalten zu können, wird im Ernstfall allein dastehen – politisch, wirtschaftlich und militärisch.

Anna Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil und seit 2025 auch Herausgeberin des Magazins. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.