Polen: Der Präsidentenpalast bleibt in rechter Hand
21.00 Uhr. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten gestern über 30 Millionen Polinnen und Polen die Möglichkeit, über die Zukunft ihres Landes zu entscheiden. 71,7 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Urne – ein neuer Rekord seit 1995, insbesondere für ein Land, das für seine besonders niedrige Wahlbeteiligung bekannt ist. Der Sonntag war für viele progressive und pro-europäische Polinnen und Polen geprägt von Zittern. Und zwar die ganze Nacht.
Nach acht Jahren rechter PiS-Regierung ist seit Dezember 2023 wieder eine Mehrheit an Politikern im Sejm (Anm.: so heißt das polnische Parlament), die pro-europäisch, progressiv und politisch mitte bis links sind. Der Ex-Präsident des Europarats, Donald Tusk konnte sich mit seiner PO-Partei (Platforma Obywatelska; dt.: Bürgerplattform), der Trzecia Droga-Partei (dt.: dritter Weg) und der Lewica-Partei (dt.: Linke) auf eine Mehrparteienregierung einigen. Tusk versprach den Polinnen und Polen, er werde das Land reformieren. Das restriktive Abtreibungsgesetz sollte gelockert werden, die 2015 durchgeführte umstrittene Justizreform, mit der die Regierung auf die Gerichte Einfluss nehmen kann, sollte rückgängig gemacht werden. Das ist der jetzigen Regierung allerdings bisher nicht gelungen – der amtierende Präsident Andrzej Duda aus der rechten PiS-Partei blockierte diese Reformen mit seinem Veto besonders ausgiebig.
Wird sich dieser Teufelskreis schließen? In der ersten Nachwahlbefragung kam heraus, dass Trzaskowski mit 50,3 Prozent um 0,6 Prozentpunkte vor Nawrocki lag. Dies änderte sich jedoch um 23 Uhr nachts, als ein aktualisiertes, vorläufiges Ergebnis veröffentlicht wurde: Nawrocki 50,7 Prozent, Trzaskowski 49,3 Prozent. Schwankungsbreite: ein Prozentpunkt. Am nächsten Tag verfestigte sich Nawrockis Sieg nochmal: 50,89 Prozent für Nawrocki, 49,11 für Trzaskowski.
Doch wer sind die beiden Kandidaten überhaupt?
Karol Nawrocki, 43, gilt ein echter Polit-Quereinsteiger. Der Danziger ist nämlich eigentlich studierter Historiker und leitete bis zu seinem Wahlkampf das Institut für Nationales Gedenken. Nawrocki ist zwar offiziell parteilos, trotzdem bekam er viel Unterstützung von der PiS-Partei. Er gilt als großer Unterstützer von US-Präsident Trump und Ungarns Premier Orbán. Nawrocki ist außerdem ein jemand, der bereits vor seinem Amtsantritt für Kontroversen bekannt war. Seit 2024 fahndet Russland nach ihm, weil er sich für den Abriss sowjetischer Kriegsdenkmäler in Polen eingesetzt und dies medial groß inszeniert haben soll. Außerdem soll Nawrocki die Wohnung eines 80-jährigen Mannes unter fragwürdigen Umständen zu einem Zehntel des Preises übernommen haben. Nawrocki soll die Wohnung gegen die Abmachung, sich um den Pensionisten zu kümmern, extrem günstig bekommen haben. An die Abmachung hielt er sich allerdings nicht: Nawrocki bekam die Einzimmerwohnung, der Pensionist landete stattdessen in einem staatlichen Pflegeheim.
Der 43-Jährige erntete für den „Wohnungsdeal“ von allen Seiten Kritik. Als Entschuldigung dafür soll er versprochen haben, die Wohnung für wohltätige Zwecke zu spenden.
Sein politischer Gegner, Rafał Trzaskowski, 53, gilt in polnischen Medien als der perfekte Schwiegersohn. Er ist gutaussehend, charismatisch, gebildet, spricht fünf Sprachen und hat bereits eine jahrelange politische Karriere hinter sich. Der gebürtige Warschauer ist seit 2018 Bürgermeister der Hauptstadt. Davor war er unter anderem Abgeordneter im EU-Parlament oder Minister für Verwaltung und Digitalisierung im zweiten Kabinett von Donald Tusk (2011). Schon als Jugendlicher engagierte Trzaskowski sich in der Solidarność-Gewerkschaft.
Auf den ersten Blick wirkt Trzaskowski wie der perfekte Präsident – vielleicht ist er aber zu perfekt für Polen, meinen Kritiker. Denn: Ein Polyglot mit Studienabschluss wirkt auf viele Menschen unnahbar. Gegen dieses Image kämpfte er in den vergangenen Wochen hart an.
Blickt man auf Trzaskowskis bisherige politische Laufbahn, merkt man, dass er bisher progressivere Ansichten vertreten hat, als im jetzigen Wahlkampf. In einem Fernsehinterview mit der CNN betonte Trzaskowski etwa immer wieder, dass er Politiker der „Mitte” sei, sowie ein stolzer Patriot. Er besuchte viele kleine Städte, inszenierte sich mit seiner Ehefrau Małgorzata auf Social Media als Vorzeige-Ehemann – alles, um so volksnah wie möglich zu wirken?
Im ersten Wahlgang hat Rafał Trzaskowski mit 30,8 % die meisten Stimmen erhalten. Sein Konkurrent, Karol Nawrocki, wurde mit 29,1 % knapp Zweiter. Jetzt war es doch andersherum.
Der Einfluss des Temu-Trumps
Im ersten Wahlgang gewann ein dritter Kandidat beachtliche 15 Prozent der Stimmen für sich. Prozentpunkte, um die beide Kandidaten in der Stichwahl kämpften. Sein Name ist Sławomir Mentzen, er ist 38 Jahre alt. Seine politischen Gegner nennen Mentzen abwertend „Temu Trump” – also eine Version von Donald Trump, die auf der chinesischen Billigplattform „Temu” bestellt wurde.
Mentzen war Spitzenkandidat der rechtsextremen Partei „Konfederacja” (dt.: Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit), er gilt als extrem konservativ. 2019 wurde er mit einer Rede bekannt, in der er die „die fünf Mentzen-Punkte” aufzählte: „Wir wollen keine Juden, keine Homosexuellen, keine Abtreibung, keine Steuern und keine Europäische Union.“ Von der Sprache und Rhetorik erinnerte Mentzen stark an Donald Trumps. Selbst sein Merch sah dem von Trump ähnlich. Mentzen ist besonders beliebt bei jungen Menschen, vor der Wahl war er besonders auf der Videoplattform TikTok aktiv. Vielleicht gerade weil er so kontrovers ist?
Viele von seinen Wählerinnen und Wählern sollen „Protestwähler” gewesen sein. Menschen, die müde davon sind, dass die jetzige Regierung fast keines ihrer Wahlversprechen einhalten konnte. Wohin diese Wähler beim zweiten Durchgang wohl gewandert sind? Ideologisch passt Mentzen eher zum ebenfalls rechten Nawrocki, würde man meinen. Allerdings distanzierte er sich von dem PiS-Kandidaten aufgrund dessen „Wohnungsdeals”. Der progressive Rafał Trzaskowski traf „Temu Trump” vergangene Woche zu einem Gespräch und versuchte, sich so Mentzens Unterstützerinnen und Unterstützern anzunähern. Dies gelang ihm aber nicht. Laut erster Ergebnisse stimmten dennoch fast alle Menzten-Wählerinnen und Wähler beim zweiten Wahldurchgang für Nawrocki.
Der jetzigen Regierung wird mit Nawrocki als neuen Präsidenten die Möglichkeit, ihre Wahlversprechen einzulösen, endgültig genommen. Wie geht es jetzt mit dem Land weiter? Es bleibt – selbst nach dem ereignisreichen Wahlkampf – spannend.