An Israeli soldier rests on an artillery cannon as his comrade stands guard at an undisclosed location in northern Israel bordering Lebanon on October 8, 2023. Fighting between Israeli forces and the Palestinian militant group Hamas raged on October 8, with hundreds killed on both sides after a surprise attack on Israel prompted Prime Minister Benjamin Netanyahu to warn they were "embarking on a long and difficult war". (Photo by JALAA MAREY / AFP)
Morgenpost

Kriegszustand in Israel: „Jeder kennt jemanden, der Opfer ist“

Es ist Krieg in Israel. Die Schockwellen reichen weit über das Mittelmeerland hinaus. Ein Anruf bei Hanno Loewy, dem Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems.

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Der Krieg, der Israel durch eine mörderische Terrorattacke aus dem Gazastreifen durch die radikalislamische Hamas aufgezwungen wurde, hat vorigen Samstag um 06.00 Uhr begonnen. Laut der israelischen Armee wurden bis zum gestrigen Montag mehr als 4400 Raketen von Gaza auf israelische Städte abgefeuert. Mehr als 100 Menschen wurden nach Gaza verschleppt, auf beiden Seiten sind über 1000 Todesopfer zu beklagen. Die erschütternden Nachrichten aus dem Kriegsgebiet reißen nicht ab. Anruf beim Frankfurter Medienwissenschafter Hanno Loewy, der seit 2004 das Jüdische Museum in Hohenems leitet. Einige Antworten auf drängende Fragen. Der Versuch einer Einordnung.

Herr Loewy, wie erleben Sie diese Tage?
Loewy
Israel ist unter Schock ob des Ausmaßes an Gewalt, die in dieser Form erstmals auf israelischem Boden stattfindet. Das Morden und Töten findet nicht in den besetzten Gebieten fernab oder am Sinai 1973 statt, als tausende israelische Soldaten starben, sondern in Israel selbst. Der Terror hat Israel in einer Bestialität erreicht, die das Land nicht kannte. Jeder kennt jemanden, der Opfer ist.
Warum erfolgte die Attacke der Hamas gerade jetzt?
Loewy
Der Größenwahn, den Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu samt seiner Entourage verbreitet, ist krachend in sich zusammengestürzt. Die Geheimdienste und das Militär waren offenbar vollkommen unvorbereitet auf eine Terrorattacke, die von der Hamas viele Monate lang vorbereitet worden war. Niemand kam auf die Idee, dass sich am vergangenen Wochenende der 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs jährte, der gerade darin besteht, sich an den Überraschungsangriff zweier arabischer Armeen auf Israel zu erinnern. Man verfiel auch nicht auf den Gedanken, dass die Hamas alle verbrecherischen Gründe hat, das geplante Friedensabkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu torpedieren.
Jegliche Annäherung scheint in weite Ferne gerückt.
Loewy
Die Alternative wäre ein unversöhnliches Wir-Hier und Ihr-Dort, was für beide Seiten auf Jahre hinaus Gewalt, Tod und Leid bedeutete. Im Augenblick führt die Hamas ein erbarmungsloses Regime, was den Tod zahlloser Menschen nach sich zieht. Der Überfall auf Israel hat alles überstiegen, was man an Gewalttätigkeit in diesem Konflikt, der seit Jahrzehnten währt, bislang erlebt hat...
...und in dem die Hamas ein einziges Ziel verfolgt.
Loewy
Die Hamas führt in Gaza seit knapp 20 Jahren die Geschicke, nimmt die eigene Bevölkerung als Geisel in einem großen Freiluftgefängnis, in dem fast nur Menschen leben, die dort auch geboren wurden, nie was anderes gesehen haben, als Besatzung und dann ein Leben unter dem Regime der Hamas – unter israelischer Bewachung. Die Hamas kennt nur ein Ziel: die Vernichtung Israels, sie unterscheidet nicht zwischen Soldaten und Zivilisten. Das Problem dahinter ist, dass den Menschen in Palästina niemand eine Alternative bietet. Solange es keine Perspektive gibt, wählen sie die schlimmste.
Wird das Leben für Jüdinnen und Juden in aller Welt jemals wieder normal sein?
Loewy
Normal? Im Dasein der Jüdinnen und Juden war noch nie etwas normal. Aber die interessante Frage heute müsste lauten, ob die Menschen in Israel und Palästina irgendwann zusammen leben können – was bedeutete, dass Israelis und Palästinenser einen eigenen Weg finden müssten, das Land zwischen Jordan und Mittelmeer gemeinsam zu bewohnen und zu regieren. Teilen kann man das Land schon längst nicht mehr. Doch von einem gemeinsamen Leben sind wir weiter denn je entfernt – und zugleich dringlicher denn je darauf verwiesen.
Wie viel Optimismus hegen Sie für den Nahen Osten?
Loewy
In 50 Jahren werden die Konfliktparteien vielleicht müde sein. Bis dahin sehe ich keinerlei Grund zum Optimismus. Netanjahu hat die Palästinenser aufgefordert, den Gazastreifen zu verlassen. Wo sollen sie hin? Ins Meer steigen? Nach Ägypten schwimmen? Zwei Millionen Menschen jählings auf der Flucht? Israel wird in den Gazastreifen einmarschieren und versuchen, die Geiseln zu befreien und Hamas-Führer zu eliminieren. Der Blutzoll wird groß sein. Am Ende wird nicht erreicht, dass sich die Menschen in Gaza in Luft auflösen. Netanjahu wird es auch nicht schaffen, dass die Hamas nicht weiter existiert. Die Israelis aber werden den Überfall und die barbarische Gewalt nicht einfach hinter sich lassen können. Insofern erspare ich mir jeden klugen Ratschlag von außen, was jetzt zu tun ist. Das Einzige, was mich ein wenig optimistisch stimmt, ist der Umstand, dass auf Israels Straßen vor dem Krieg manche Menschen begonnen haben, für eine wirkliche Demokratie zu demonstrieren, die alle Menschen, die in diesem Land leben und es ihre „Heimat“ nennen, einschließt. Solange es solche Menschen gibt, ist nie alles verloren.

Einen halbwegs optimistischen Dienstag wünscht

Wolfgang Paterno

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.