Sind die Vulkane noch tätig? Die Wiener Festwochen nähern sich ihrem Grande Finale
Milo Rau ist ein Aktivist der Gefühle. Die von ihm für den diesjährigen Festwochen-Frühling ausgerufene „Republik der Liebe“ prangt nicht nur als Riesenaufnäher auf dem Overall, den Rau derzeit bei sämtlichen offiziellen Anlässen aufträgt; sie ist als temporäres Refugium in dieser Stadt tatsächlich zu spüren. Denn Rau hat es auch heuer wieder verstanden, seinen Schauplatz zu dynamisieren, Wien in produktive Turbulenzen und diskursive Ambivalenzen zu versetzen – und dies nicht nur mit den absehbaren Aufregungen rund um seine kunstsprachlich-starbesetzte Inszenierung von Elfriede Jelineks „Burgtheater“, sondern auch mit feinen Randereignissen wie einer „Gaming-Lecture“ der Gruppe Total Refusal, deren künstlerische Praxis auf der Subversion und der ideologischen Relektüre global-populärer Gewalt-Videospiele basiert.
Der junge Blixa Bargeld, Vokalist der Berliner Industrial-Band Einstürzende Neubauten, erkundigte sich bereits 1983 in dem Song „Armenia“ flüsternd: „Brennt auf den Nägeln eine Frage nur / Sind die Vulkane noch tätig?“ Ja, doch, sind sie. Denn derzeit – bis inklusive 22. Juni – sind die Festwochen noch ähnlich aktiv wie gerade auch die Vulkane Mittelamerikas und Italiens: Mit strombolianischen Eruptionen ist weiterhin zu rechnen.
Gespenstisches Spiel
Aber auch an empfehlenswerten Bühnenereignissen mit geringerer seismischer Wirkung sind die Wiener Festwochen keineswegs arm. In „Ein gefräßiger Schatten“ etwa, einem von dem argentinischen Regisseur Mariano Pensotti realisierten Theaterabend, wird ein sanft verschachtelt gebautes Alpinistendrama mit einer ironischen Reflexion der Schauspielerei verklammert; als szenisch minimalistisches Duett und „Volksstück“ konzipiert, tourt das durchaus mitreißende Werk mit den beiden untadeligen Schauspielern Sebastian Klein und Manuel Harder weiterhin durch Wiens Vorstädte; noch neunmal, also fast täglich wird es im Finale der Festwochen zu sehen sein.
Eine ungleich größere Produktion, nämlich „Das letzte Jahr“, die immersive, sechsstündige Pflegeheim-Simulation des dänisch-österreichischen Theaterkollektivs Signa, sprengt sogar den Zeitrahmen der - eben eigentlich am 22. Juni endenden – Wiener Festwochen: Sie ist in den apokalyptisch adaptierten Räumlichkeiten des alten Wiener Funkhauses in der Argentinierstraße noch bis 29. Juni zu besuchen. Wenn man Restkarten ergattern kann. Und sich als Zuschauer:in am gespenstischen Spiel, das einen zu hochbetagten Patient:innen macht, selbst einbringen mag.
Einen verführerischen Titel trägt „Musée Duras“: Der Franzose Julien Gosselin errichtet dafür im Museumsquartier ein theatralisches Monument für die unsterbliche Schriftstellerin, Filmemacherin und Feministin Marguerite Duras (1914–1996); an den beiden finalen (regulären) Spieltagen der Festwochen absolviert er mit einer Gruppe von 15 jungen Schauspielerinnen und Schauspielern, an zwei langen Theatertagen zu je zehn Stunden, in elf kurzen Stücke zu den Hauptwerken der Autorin eine Reise durchs Durasiversum. Auch dies, in bewährter Festwochen-Diktion: ein Museum der Liebe.
„Kunst und Missbrauch“
Um politische Drastik ist Milo Rau nie verlegen: Geradezu antikische, zugleich aber leider auch sehr reale Wucht entwickelte „Die Seherin“, ein von Sophokles inspiriertes Solo für die furchtlose Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi. Es kreist um Kriegsfotografie, Voyeurismus und die Verbrechen des Islamischen Staates im Irak. Ein Opfer des IS, der sympathische Lehrer Azad Hassan tritt als Zeitzeuge per Videozuspielung auf und erzählt die beklemmende Geschichte, die ihn seine rechte Hand gekostet hat.
Die Wiener Kongresse, mit denen man heuer zwei Wochenenden bespielt (und via Livestream verfügbar macht), werden zwischen 13. und 15. Juni – nach den spannenden Kulturkrieg- und Cancelling-Debatten, die zwischen 30. Mai und 1. Juni stattfanden – nun noch das Reizthema „Kunst und Missbrauch“ ausloten: Es wird dabei auch um die kriminellen Entgleisungen von Otto Muehl und Florian Teichtmeister sowie um die mutmaßlichen Übergriffe des Rammstein-Wirrkopfs Till Lindemann gehen, die dazu geladenen Gäste, die referieren und befragt werden, sollten heute, Dienstag, bekanntgegeben werden.
Die strenge Form, die diese Veranstaltung im vergangenen Jahr hatte, als sie noch „Wiener Prozesse“ hieß, hat man jedenfalls beibehalten: Man nennt es nun Kongress, aber es bleibt ein (Schau-)Prozess. Mit Provokations-, Erregungs- und Angriffspotenzial. Bei aller Liebe.
Einen spannenden Dienstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.