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„Systemsprenger“: Warum sich Fachleute für das Anhalten von Jugendlichen aussprechen

Die neue Regierung will WGs mit Zwangsaufenthalt schaffen. In der Jugend- und Sozialarbeit war das ein Tabu. Aber nicht für alle.

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Menschen reden regelmäßig aneinander vorbei, manchmal aber auch in voller Absicht. Wenn Innenminister Gerhard Karner von „gefängnisähnlichen Unterbringungseinrichtungen“ spricht, Neos und SPÖ von sozialpädagogischen Wohngemeinschaften für Kinder „mit befristeten Formen von Zwangsaufenthalt“ reden, dann klingt das sehr anders – ist aber tatsächlich ein und dasselbe Vorhaben der neuen Koalition, das auch im Regierungsprogramm vorkommt. 

Um das Vorhaben kümmern sich derzeit Innen- und Justizministerium. Eine Arbeitsgruppe mit Expertinnen und Experten diskutiert, was möglich, gewünscht und akzeptabel ist. In der Jugendarbeit sehen viele das – zeitweise – Einsperren von Jugendlichen sehr kritisch, aber nicht nur. Walter Eichmann vom Verein Oase arbeitet seit Jahrzehnten mit Jugendlichen und spricht sich dafür aus. Warum?

Acht Kinder, ein Betreuender

Wenn Kinder ihren Eltern abgenommen werden, kommen sie zuerst in das Krisenzentrum, danach in eine Pflegefamilie oder eine Wohngemeinschaft. In den WGs wohnen acht Kinder und Jugendliche, ein bis zwei Betreuende sind vor Ort. „Das ist ein katastrophales Verhältnis“, heißt es von mehreren Personen aus dem Sozialbereich. In sozialtherapeutischen oder sozialpsychiatrischen Wohngemeinschaften sind es weitaus weniger Kinder. Hier sind vier, sechs oder sogar nur eine Person in Betreuung. „Von diesen Gruppen könnten wir noch viel mehr brauchen“, sagt Walter Eichmann vom Verein Oase. Seine Organisation ist auf besonders schwierige Jugendliche spezialisiert.

Wie könnte so eine WG ausschauen?

„Wir stoßen öfter an die Grenzen unserer pädagogischen Möglichkeiten“, erzählt Eichmann weiter. Es gehe dabei um eine sehr kleine Zahl an Jugendlichen, die aber mehr werden. Die Polizei nennt diese Jugendlichen „Systemsprenger“, profil hat mit einigen von ihnen Kontakt aufgenommen. Sozialpädagoginnen und -pädagogen können derzeit die Jugendlichen auffordern zuhause zu bleiben, aber: „Sie dürfen nicht sagen, ‘du bleibst drinnen, bis du dich beruhigt hast.‘ Das gilt vor Gericht als freiheitbeschränkender Maßnahme.“ Gleichzeitig haben die Institutionen die Aufsichtspflicht. Das verunsichere die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter. Auch die Wiener Jugendhilfe MA11 spricht sich hier für eine Gesetzesänderung aus.

Aus der Sicht von Eichmann gebe es hier eine Lücke, er sieht daher die Pläne der neuen Regierung positiv. „Ich glaube, wir brauchen das. Es ist unverantwortlich gegenüber der Gesellschaft. Wir brauchen allerdings für so eine geschlossene Unterbringung ganz andere Bedingungen.“ Eichmann ist allerdings einer der wenigen, der sich so klar für diese neuen Einrichtungen aussprechen. Etwa Dieter Schrattenholzer vom Dachverband der Wiener Kinder- und Jugendeinrichtungen sieht es ambivalenter: „Wenn wir alle anderen Maßnahmen probiert haben und die Zielgruppe definiert ist, kann man über diese Einrichtungen nachdenken. Aber wir sind nicht dafür sofort den Sprung hin zu so einer Einrichtung zu machen, vor allem, wenn man sie Gefängnis-ähnlich nennt. Es ist wichtig, dass Kinderschutz im Vordergrund steht und nicht die Strafmaßnahme.“

Doch welche Bedingungen meint Eichmann? In Deutschland gibt es etwa eine Einrichtung für sechs Jugendliche, die in drei Zweiergruppen aufgeteilt werden können. Sie haben einen Innenhof, den sie nicht verlassen können und es gibt speziellen baulichen Maßnahmen, die das Gewaltpotenzial untereinander senken. Sie stehen in einer engen Kooperation mit der Psychiatrie. 

Paradigmenwechsel im Jugendbereich

Vor rund dreißig Jahren schloss die Stadt Wien Großheime für Kinder und Jugendliche und verteilte sie in kleineren Einheiten über die Stadt. Einen Teil der Kinder betreut die Stadt Wien direkt, ein Teil ist ausgelagert an Trägervereine. Das Ziel war eine zunehmende Öffnung, weniger autoritäre Strukturen und Abschottung.

Doch die Stadt wächst und damit auch die Probleme. Jetzt stößt dieses WG-Modell in manchen Fällen an Grenzen. In Mehrparteienhäuser fallen schwierige Kinder auf, es gibt Probleme mit Nachbarn und große Areale mit Sportplätzen, wo man Konflikte austragen kann, sind rar. 

Die Debatte dreht sich nun also wieder. Was dabei rauskommt, erfahren wir vermutlich nach den Sommerferien.

Clara Peterlik

Clara Peterlik

ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.