„Er war kein Grüßer“

100 Jahre Erster Weltkrieg: „Er war kein Grüßer“

100 Jahre Erster Weltkrieg. Der Countdown zum Krieg: 22. - 28. Juni 1914

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Am Mittwoch, dem 24. Juni 1914, verabschieden sich der Thronfolger und seine Frau von ihren drei Kindern, die auf Schloss Chlumetz, nahe Königgrätz, zurückbleiben, während die Eltern zu den Manövern nach Bosnien reisen. In einer Woche wollen sie wieder zurück sein.
Franz Ferdinand fährt mit dem Zug nach Triest und besteigt dort das Kriegsschiff „Viribus Unitis“, das ihn an die dalmatinische
Küste bringt. Sophie nimmt den Zug über Budapest. Donnerstagabend treffen beide in Bad Ilidze nahe Sarajevo ein.

Die Manöver enden am Samstag. Der Sonderzug, mit dem das Thronfolgerpaar am Sonntag nach Sarajevo gebracht wird, kommt kurz vor zehn Uhr in der bosnischen Hauptstadt an. Der 28. Juni 1914 ist ein heißer Tag. Man beschließt, im offenen Automobil durch die Stadt zu fahren. Der Konvoi besteht aus sieben Fahrzeugen. Franz Ferdinand und seine Frau sitzen im dritten Wagen.

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Um 12.13 Uhr setzt Graf Karl Rumerskirch, Obersthofmeister des Erzherzogs, ein Telegramm an den Kaiser und die Regierungsspitzen ab: „Tief erschüttert und ganz gebrochen melde ich, dass bei der Rundfahrt durch Sarajevo ein mörderisches Attentat auf die Hoheiten verübt wurde, welchem sie erlagen, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Ärztliche Hilfe, die sofort zur Verfügung stand, war leider vergeblich.“

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Kaiser Franz Joseph erreicht die Meldung vom Tod des Thronfolgers kurz nach dem Mittagsmahl in Bad Ischl. Überbracht wird sie ihm von seinem Generaladjutanten Eduard Graf Paar, der ihm 16 Jahre zuvor auch die Nachricht von der Ermordung seiner Frau Elisabeth übermittelt hatte. Der Kaiser fährt am frühen Morgen des nächsten Tages zurück nach Wien, wo seine Tochter Erzherzogin Valerie in Schönbrunn auf ihn wartet. Sie schreibt später: „Ich traf Papa erstaunlich munter an. Gewiss – er war bestürzt. Aber wie erwartet, war er nicht persönlich betroffen.“

Franz Joseph hatte nie viel mit seinem Neffen verbunden. Vor allem verzieh er ihm die Ehe mit Sophie Gräfin Chotek nicht, die – inakzeptabel für Habsburg – aus keinem regierenden Haus stammte. Franz Josephs eigener Sohn, Kronprinz Rudolf, wäre jetzt 56 Jahre, hätte er sich nicht ein Vierteljahrhundert ­zuvor gemeinsam mit seiner geliebten Mary Vetsera im Jagdschloss Mayerling im Wienerwald erschossen. Ihn wollte er als Nachfolger sehen.

Der Adjutant des greisen Monarchen wird später über die erste Reaktion Franz Josephs nach dem Eintreffen der Nachricht aus Sarajevo erzählen: „Eine höhere Macht hat wieder jene Ordnung hergestellt, die ich leider nicht zu erhalten vermochte.“

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Außenminister Leopold Graf Berchtold erreicht die Depesche aus Sarajevo nicht in Wien, sondern auf seinem südmährischen Schloss Buchlau, wohin er sich verfügt hatte, um mit seiner Familie das Wochenende zu verbringen. Der 51-Jährige ist erst seit zwei Jahren Außenminister. Zuvor hatte er Österreich-Ungarn am Hof des Zaren in Sankt Petersburg vertreten. Berchtold bestellt einen Wagen für den frühen Morgen des nächsten Tages und beruft telegrafisch Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf für Montag, 18 Uhr, ins Ministerium. Am selben Abend tagt in Wien der Ministerrat. Berchtold schreibt nach Ende der Sitzung in sein Tagebuch: „Mehreren der Herren war bei aller Ergriffenheit, Bestürzung und Empörung der Unterton einer gewissen Gemütserleichterung anzumerken.“

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Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf hatte an den Manövern teilgenommen und ist bereits auf der Rückreise nach Wien, als das Thronfolgerpaar in Sarajevo erschossen wird. Als Conrads Zug um 14 Uhr in Agram einläuft, wartet schon Korpskommandant Adolf von Rhemen am Bahnsteig, um ihm die Nachricht vom Attentat zu überbringen. Noch am selben Nachmittag schreibt Conrad einen Brief an seine Geliebte, Gina von Reininghaus, die Frau des steirischen Bierbarons. Franz Ferdinand habe durch sein Nein zu einem Präventivschlag gegen Serbien selbst schuld an den Ereignissen, meint der Generalstabschef: „Ein energisches Handeln hätte 1909 dieser Entwicklung eine andere Richtung gegeben. So straft sich Entschlusslosigkeit und Versäumnis.“

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Der 20-jährige Student Joseph Roth aus Brody in Galizien erfährt die Nachricht vom Attentat in Sarajevo in Lemberg, wo er sich im Herbst zuvor an der Universität inskribiert hat. Er ist kein Gegner der Monarchie, im Gegenteil: 1916 wird er sich freiwillig zum Kriegsdienst melden, nachdem er zuvor als „untauglich“ eingestuft worden war.

Aber 1932 wird Roth in seinem epochalen Werk „Radetzkymarsch“ einen ungarischen Offizier über die Nachricht vom Tod Franz Ferdinands sagen lassen: „Wir sind übereingekommen, meine Landsleute und ich, dass wir froh sein können, dass das Schwein hin ist.“

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Karl Kraus, ätzender Kritiker der Zeitläufte, war am Wochenende vor dem Anschlag im Garten von Franz Ferdinands böhmischen Schloss Konopischt gewesen. Der Thronfolger hatte dem staunenden Volk zwei Tage lang den Schlosspark geöffnet, sich selbst aber nicht gezeigt. Baronesse Sidonie Nádherny, die Geliebte des Autors, besaß etwa 20 Kilometer weiter ein Gut – also war man nach Konopischt gekommen, um diese prächtigen Gärten zu sehen. Nach dem Besuch hält Kraus fest, die Erhaltung eines solchen Parks, „der zwischen einer fünfhundertjährigen Papel und einer heute erblühten Glockenblume alle Wunder der Schöpfung aus einer
zerstörten Welt hebt“, sei wichtiger „als der Betrieb aller intellektuellen Schändlichkeiten“.

Als die Nachricht vom Tod des Thronfolgerpaares eintrifft, ist Karl Kraus schon wieder in Wien. In seinem Nachruf in der „Fackel“ schreibt er: „Franz Ferdinand scheint in der Epoche des allgemeinen Menschenjammers, der in der österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs die Fratze des gemütlichen Siechtums annimmt, das Maß eines Mannes besessen zu haben. Er war kein Grüßer, nichts hatte er von jener ,gewinnenden‘ Art, die ein Volk von Zuschauern über die Verluste beruhigt. Auf jene unerforschte Gegend, die der Wiener sein Herz nennt, hatte er es nicht abgesehen.“

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In Wien ist der 28. Juni ein sonniger, aber nicht zu heißer Sonntag. Am Morgen hat es 18 Grad. Der Schriftsteller Arthur Schnitzler macht mit seiner Frau eine Wanderung zur Sophienalpe im stadtnahen Teil des Wienerwalds. Als er am späten Nachmittag wieder in seiner Villa ist, erreicht ihn ein Anruf seines Bruders. Schnitzler schreibt danach in sein Tagebuch: „Es telephoniert uns Julius, dass Franz Ferdinand und Gemahlin in Sarajevo erschossen wurden.“ Fast noch mehr beschäftigt den 52-Jährigen der schöne Ausflug, den er eben gemacht hat: „Schöner Sommertag“, hält er fest.

Am selben Abend kommen Julius und seine Frau sowie der Autor Felix Salten („Bambi“, „Josefine Mutzenbacher – die Geschichte einer Wienerischen Dirne“) zum Diner. Als die Gäste gegangen sind, schreibt Schnitzler noch einmal in sein Tagebuch: „Die Ermordung F. F.s wirkte nach der ersten Erschütterung nicht mehr stark nach. Seine ungeheure Unbeliebtheit!“

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Schnitzlers Schriftstellerkollege Stefan Zweig sitzt an diesem Sonntagnachmittag im Kurpark von Baden und liest eine Biografie Leo Tolstois, als plötzlich dem Dirigenten des Kurorchesters ein Zettel gereicht wird. „Ich spürte nur, dass die Musik mit einem mal aussetzte. Instinktiv sah ich vom Buche auf“, schreibt Zweig später in seinen Erinnerungen „Die Welt von Gestern.“ Das Entsetzen währte nur kurz. „Zwei Stunden später konnte man kein Zeichen von Trauer mehr bemerken. Die Leute plauderten und lachten, und abends spielte in den Lokalen wieder die Musik. Der Thronfolger war keineswegs beliebt gewesen.“

Noch fünf Wochen bis zum Krieg.

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