100 Jahre Erster Weltkrieg: Im kalten Wasser
In Wien findet das jährliche Wettschwimmen im Donaukanal statt. Gestartet wird in Nussdorf, das Ziel liegt 7,5 Kilometer stromabwärts bei der Sophienbrücke (heute Rotundenbrücke). Die Wassertemperatur beträgt nur zwölf Grad, die Schwimmer 21 Damen und 47 Herren werden auch durch starken Sturm behindert. Bei den Damen siegt Fräulein Zahourek in 51:17 Minuten. Bei den Herren holt sich Simon Orlik mit 49:02 Minuten den Pokal.
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Zwei Wanderergruppen eine aus Graz, eine aus Wien besteigen von der Kürsingerhütte aus den Gipfel des Großvenedigers (3660 Meter). Beim Abstieg Richtung Pragerhütte geraten sie um etwa elf Uhr in einen furchtbaren Schneesturm. Obwohl die Route relativ leicht ist, schaffen es die fünf Bergsteiger nicht mehr zur nur eine Stunde entfernten Hütte. Die Leichen der erfrorenen Alpinisten werden zwei Tage später von Matrei aus geborgen.
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Der deutsche Pilot Hans Linnekogler stellt einen neuen Höhenrekord auf. Mit seinem Rumpler-Militäreindecker erreicht er nahe Berlin die Höhe von 6570 Metern und überbietet den bisherigen Rekord er wurde von einem Franzosen gehalten um 420 Meter. Linnekogler gewinnt damit den von der deutschen Nationalflugspende ausgesetzten Preis von 10.000 Mark.
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In vielen Zeitungen wird jetzt der Wert männlicher Tugenden hervorgehoben die Boulevardpresse führt Schwächlinge vor. Etwa den weinenden Rekruten von Berchtesgaden: Als der Gendarmerie-Sergeant während der Musterung einen jungen Vaterlandsverteidiger, der nicht gerade Anspruch auf einen herkulischen Körperbau machen kann, anwies, sich völlig auszuziehen, fing der ,Mann zu weinen an, worauf sich natürlich ein höllisches Gelächter einstellte.
Das Wesen soldatischer Tugenden wird in den Wiener Blättern an der Person des neuen Thronfolgers Erzherzog Karl Franz Josef demonstriert: Gerade in diesen Tagen bekundete der jugendliche Erzherzog gerades offiziersmäßiges Handeln, was ihm mit einem Schlage die Herzen alle Offiziere zufliegen ließ. Seinem Dienst kommt Franz Karl Josef mit peinlicher Akkuratesse nach. Man sieht ihn zu jeder Tageszeit in der Kaserne, und der kleine innere Dienst ist ihm so wichtig wie jede Ausrückung der Truppe ins Terrain.
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Die Arbeiter Zeitung veröffentlicht Augenzeugenberichte von den Übergriffen auf bosnische Serben in Sarajevo durch muslimische Bosniaken und katholische Kroaten. Ein Trupp von etwa 250 Mann habe das einem Serben gehörende Hotel Europe gestürmt, das auch das vornehmste Kaffeehaus der Stadt beherbergt. Die Plünderer warfen Betten und Schränke auf die Straße, zertrümmerten Fenster und Geschirr und verwüsteten den Weinkeller. Das Wüten dauerte von neun Uhr am Vormittag bis 17 Uhr am Nachmittag, ohne dass die Polizei eingriff.
In der serbischen Hauptstadt Belgrad befürchtet die dort lebende österreichische
Kolonie Vergeltungsmaßnahmen durch die Serben. Botschafter Baron von Giesl spricht bei Ministerpräsident Nikola Pasic vor, der schickt zusätzliche Sicherheitsbeamte zur Bewachung der Gesandtschaft, in die mehrere in Serbien lebende Österreicher flüchteten. Zu Übergriffen kommt es nicht.
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Am 13. Jänner trifft bei Außenminister Graf Berchtold ein Telegramm seines nach Sarajevo entsandten Sektionsrats Friedrich Wiesner ein. Wiesner sollte in einer Geheimmission den tatsächlichen Ermittlungsstand zum Attentat auf den Thronfolger und seine Frau recherchieren und erheben, wie weit Serbien tatsächlich in den Anschlag verwickelt war. Wiesner telegrafiert: Mitwisserschaft serbischer Regierung an der Leitung des Attentats oder dessen Vorbereitung durch nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten
Durch Aussagen Beschuldigter aber kaum anfechtbar, dass Attentat unter Mitwirkung serbischer Staatsbeamter vorbereitet wurde, von welchen auch die Brownings, Munition und Zyankali beigestellt wurden.
Am selben Tag gibt der serbische Ministerpräsident Pasic einem New Yorker Journalisten ein Interview ähnlichen Inhalts, in dem er zumindest, was die Regierung betrifft eine Mittäter- oder Mitwisserschaft verneint. Dass der militärische Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte, schloss er damit nicht aus.
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Immer mehr österreichische Leitartikler fordern nun einen Feldzug. In einem Zirkularartikel des Piusvereins, der Trägerorganisation der gesamten christlichsozialen Presse, heißt es: Heute steht Österreich-Ungarn vor der Möglichkeit eines Krieges, der das Großserbentum mit Stumpf und Stiel ausrotten muss. Am Balkan nützen die Diplomaten nichts mehr dort muss mit Eisen das Gift ausgebrannt werden, welches das ganze Reich vernichten soll.
Die Militärische Rundschau schreibt: Ein initiativer, draufgängerischer Krieg wird die Nebelschwaden mit einem jähen Ruck zerreißen und uns wieder das Sonnenlicht bringen. Dem Wagemutigen gehört die Welt!
Die Neue Freie Presse sieht in einem Krieg ökonomische Chancen: Im vergangenen Jahrhundert, das die höchsten Leichenberge in den Schlachten angehäuft hat, wurde die Industrie geschaffen, der Verkehr hat sich vertausendfacht und das Volksvermögen stieg in Verhältniszahlen, die sich kaum hätten ahnen lassen. Menschliche Verluste seien dabei kein Problem: Die Fähigkeit der modernen Gesellschaft, mit Dampf, Elektrizität und Chemie verlorene Kräfte zu ersetzen, ist riesengroß. Auch soziale Gerechtigkeit erwachse aus dem Krieg, meint die Neue Freie Presse: Auf den blutgedüngten Feldern ist die Ernte gewachsen, die sämtlichen Schichten die Nahrung verbesserte und auch den Ärmsten viele Genüsse bot, die ihnen früher unzugänglich waren.
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Am Sonntag, 19. Juli, findet im Palais Strudelhof in der Wiener
Alservorstadt eine geheime Sitzung des Ministerrats statt. Dabei wird festgelegt: Das 48-Stunden-Ultimatum an Serbien wird am 23. Juli um 17 Uhr in Belgrad übergeben. Die Mobilmachung wird in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli beginnen. Der ungarische Ministerpräsident Tisza setzt durch, dass serbische Gebietsverluste den Nachbarstaaten am Balkan und nicht Österreich zugeschlagen werden sollen. Er will damit verhindern, dass der Anteil der Slawen in der Doppelmonarchie noch größer wird.
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Kaiser Franz Joseph unternimmt den ersten Jagdausflug nach seiner schweren Bronchitis, wie das dem Hof nahestehende Salonblatt meldet. Der Monarch sei zwei Stunden im Mitterweißbach bei Ischl angesessen, ohne eine Schussgelegenheit gefunden zu haben. Es zeigte sich nur ein schwacher Hirsch, den Se. Majestät nicht schießen wollte. Auf dem Weg zurück nach Ischl sei der Kaiser Gegenstand begeisterter Ovationen des massenhaft angesammelten Publikums gewesen.
Noch zwei Wochen bis zum Krieg.
Lesen Sie die bisher erschienenen Beiträge:
Unruhe im Hochadel: Der Countdown zum Krieg, Teil XXV: 29. Juni5. Juli 1914
Er war kein Grüßer: Der Countdown zum Krieg, Teil XXIV: 22.28. Juni 1914
Tod eines Tagelöhners: Der Countdown zum Krieg, Teil XXIII: 15.21. Juni 1914
Eisenstadts Judenviertel brennt: Der Countdown zum Krieg, Teil XXII: 8.14. Juni 1914
Ein letzter Tanz: Der Countdown zum Krieg, Teil XXI: 1.-7. Juni 1914
Die letzten Pfingsten in Frieden: Der Countdown zum Krieg, Teil XX: 25. - 31. Mai 1914
Ein Mann will den Krieg: Der Countdown zum Krieg, Teil XVIII: 11. - 17. Mai 1914
Glückssuche in Übersee: Der Countdown zum Krieg, Teil XVII: 4. - 11. Mai 1914
Der Thronfolger ist bereit: Der Countdown zum Krieg, Teil XVII: 27. April - 4. Mai 1914
Sorge um den Kaiser: Der Countdown zum Krieg, Teil XVI: 20.-26. April 1914
Society-Skandal in Wien: Der Countdown zum Krieg, Teil XV: 13.-19. April 1914
Drama in der Stadtbahn: Der Countdown zum Krieg, Teil XIV: 6.-12. April 1914
April! April!: Der Countdown zum Krieg, Teil XIII: 30. März - 5. April 1914
Der letzte Frühling: Der Countdown zum Krieg, Teil XII: 23. - 30. März 1914
Tod in Venedig: Der Countdown zum Krieg, Teil XI: 16. - 22. März 1914
Über den Wolken: Der Countdown zum Krieg, Teil X: 9. 15. März 1914
Der weiße Tod: Der Countdown zum Krieg, Teil IX: 2. - 8. März
Der Tanz auf dem Vulkan: Der Countdown zum Krieg, Teil VIII: 23. Februar - 1. März
Ein Ball bei Hofe: Der Countdown zum Krieg, Teil VII: 16.-22. Februar 1914
Über den Dächern von Wien: Der Countdown zum Krieg, Teil VI: 9.-15. Februar 1914
Wiener Bürger gegen den Tango: Der Countdown zum Krieg, Teil V: 2.-8. Februar 1914
Plötzlich verstorben: Der Countdown zum Krieg, Teil IV: 1. Februar 1914
In Paris wird getafelt: Der Countdown zum Krieg, Teil III: 19. bis 25. Jänner 1914
Der Kaiser fährt aus: Der Countdown zum Krieg, Teil II: 12. bis 18. Jänner 1914
1914 wird ein schönes Jahr sein: Der Countdown zum Krieg, Teil I: 1. bis 12. Jänner 1914