In Paris wird getafelt

100 Jahre Erster Weltkrieg: In Paris wird getafelt

100 Jahre Erster Weltkrieg. Der Countdown zum Krieg, Teil III: 19. bis 25. Jänner 1914

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In den Keystone Studios in Hollywood bekommt ein 25-jähriger Zuwanderer seine erste kleine Rolle: Der Brite Charles Chaplin wird als Bösewicht im Film "Making a Living“ eingesetzt. Regie führt Henry Lehrman, der auch die Hauptrolle spielt. Chaplin ist mit der Arbeit unzufrieden. In den folgenden Wochen besorgt er sich Utensilien, um eine eigene Figur zu kreieren: ein altes Paar Schuhe, eine übergroße Hose, eine Melone, eine knapp sitzende Jacke und einen falschen Bart. Schon im Februar 1914 tritt er das erste Mal als "Tramp“ auf.

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Österreich-Ungarn ist fast noch ein reines Agrarland. Die am 20. Jänner veröffentlichte Exportstatistik für 1913 nennt als wichtigsten Ausfuhrartikel Holz, gefolgt von Zucker, Schlacht- und Zuchtvieh, Getreide und Eier. "Unedle Metalle und Waren“ machen gerade drei Prozent der Exporte aus.

Dafür werden die Schnellzugsverbindungen rasch ausgebaut. Laut Winterfahrplan 1913/14 der "k. k. priv. Südbahn-Gesellschaft“ erreicht der um 7.20 Uhr vom Wiener Südbahnhof abgehende Zug etwas mehr als drei Stunden später Bruck an der Mur und ist um 9.24 Uhr des nächsten Tages im herrlichen Abbazia. Die Zugfahrt nach Rom zieht sich allerdings noch etwas: Sie dauert knapp 36 Stunden.

In dieser Woche wird die elektrische Bahn zwischen Wien und Preßburg eröffnet. Täglich verkehren in beide Richtungen je neun Züge.

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Bei vielen jungen Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, herrscht tiefe Hoffnungslosigkeit. Täglich veröffentlichen die Zeitungen Berichte über Selbstmorde und Selbstmordversuche. In Wien-Hernals versucht sich die 18-jährige Hilfsarbeiterin Katharina K. umzubringen, indem sie Laugenessenz trinkt. Sie überlebt mit schweren Verätzungen. Ein 26-jähriger Handelsangestellter, der seinen Job verlor, schießt sich in einer Stadtbahnstation eine Kugel in den Kopf. In Melk wirft sich ein 24-jähriger Arbeitsloser, der sich schwer verschuldet hat und deshalb von der Gendarmerie gesucht wird, vor den Zug.

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In Paris findet ein aufsehenerregender Prozess statt: Die Brüder Adolphe und Pierre Degeyter, zwei gebürtige Belgier, streiten vor Gericht darüber, wer von ihnen 1888 die Melodie des inzwischen weit verbreiteten Kampflieds "Die Internationale“ geschrieben hat (den Text verfasste der Franzose Eugène Pottier bereits 1871 nach der Niederschlagung der Pariser Kommune). Das Gericht gibt Adolphe Recht. Heute steht unzweifelhaft fest, dass "Die Internationale“ aus der Feder von Pierre Degeyter stammt, dem Dirigenten des Arbeitergesangsvereins Lille.

Am selben Tag gibt es in Petersburg beim Begräbnis eines erschossenen Genossen schwere Zusammenstöße zwischen Arbeitern und der zaristischen Polizei, als die Demonstranten am Grab einen revolutionären Trauermarsch anstimmen.

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Die Zeichen stehen nach außen hin auf Frieden. In Serbien wird eine neue konservative Partei gegründet, die für die Herstellung freundschaftlicher Beziehungen mit Österreich-Ungarn eintritt. In Wien verhandelt der serbische Gesandte Jovan Jovanovic über noch offene Fragen bezüglich der Orientbahn.

Aus Paris berichtet der Korrespondent der "Neuen Freien Presse“ am 20. Jänner über eine "glänzende Gesellschaft in den Räumen der deutschen Botschaft“. An dem Diner nahmen der französische Präsident Raymond Poincaré, Ministerpräsident Gaston Doumergue, Finanzminister Joseph Caillaux und eine Reihe weiterer hoher Würdenträger teil.

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In Wahrheit steht nur noch wenigen der Sinn nach Frieden. Am Ende dieser Woche veröffentlicht die angeblich humoristische Wochenzeitschrift "Die Muskete“ ein Gedicht:

"Wer pflegt zu hetzen und zu hussen?
Wer intrigiert, miniert und schürt?
Die Herren Franzosen und die Russen.
Wer tut empfindlich gleich Mimosen,
wenn man sie dessen überführt?
Die Herren Russen und Franzosen.
Kurzum: Wem sollte man die Hosen
Mal gründlich strammziehn, sapperlot?
Den Herren Russen und Franzosen!“

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Die Kirche steht auf der Seite der Kriegshetzer. Der apostolische Feldvikar der k. u. k. Armee wendet sich in einem Fastenhirtenbrief an die jungen Rekruten in den Militärerziehungsanstalten: "Ihr seid unsere Zukunft, unser Stolz, die einzige Stütze von Thron und Vaterland. Übet euch im Opfermut, im Entsagen, im Entbehren. Ihr müsst die Vordersten in den Reihen der Kämpfer sein, ihr müsst den Kampf eröffnen, ihn mutig führen.“

Noch 27 Wochen bis zum Krieg.

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