Die neue Regierung – erstmals eine Dreierkoalition – wurde vor knapp hundert Tagen, am 3. März, angelobt. Dass sie keine Schonfrist genoss, lag an der Vorgängerregierung, die Schwarz-Rot-Pink ein Budgetdesaster hinterließ. Nach dem Sanieren will Kanzler Christian Stocker das Reformieren und schließlich das Investieren angehen. Wer im Regierungs-Team besonders auffällt, aus dem Rahmen fällt oder droht, abzustürzen, zeichnet sich bereits ab.
Die drei Fragezeichen
Eine Koalition wird halten, wenn es an der Spitze funktioniert. Bisher harmonieren sie: der ÖVP-Bundesparteiobmann, der SPÖ-Vorsitzende und die Neos-Chefin. Die große Frage: Wie lange hält das an? Ausgerechnet zum 100-Tages-Jubiläum kam es zur ersten Meinungsverschiedenheit, weil Kanzler Stocker mit acht weiteren EU-Regierungschefs einen offenen Brief zur Neuauslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention im Bereich der Migration unterzeichnete. Das Kanzleramt hatte die Koalitionspartner vorab informiert, aber kein Einvernehmen hergestellt, weil es sich aus Stockers Sicht um eine Angelegenheit des Regierungschefs und keinen Beschluss der Regierung handelte.
Die Kritik von Rot und Pink fiel verhalten aus und wurde nicht von den Parteichefs vorgebracht. Offenbar gibt es so etwas wie eine wechselseitige Schonfrist innerhalb der Regierung. Dazu kommt: Jeder Parteichef wird fallweise auch unabgesprochen sein Spezialthema und die eigene Wählerschaft bedienen wollen. Für die ÖVP sind das Asyl und Migration, für die SPÖ Umverteilung und Vermögensteuern, für die Neos Bürgerrechte und Bildung.
Was die drei Spitzen verbindet, ist ihre Unerfahrenheit in Regierungsangelegenheiten. Christian Stocker (Vizebürgermeister von Wiener Neustadt) und Andreas Babler (Bürgermeister von Traiskirchen) sind gelernte Kommunalpolitiker, Beate Meinl-Reisinger war bisher Oppositionsabgeordnete. Den größten Wandel vollzog wohl Babler: eben noch lautstarker Klassenkämpfer in ausgetragenen Jeans, nun besonnener Vizekanzler im dunklen Anzug. Am meisten Vertrauensvorschuss erhielt Stocker. Wahrscheinlich war die Öffentlichkeit einfach froh, dass es endlich einen neuen Kanzler gibt, noch dazu einen unaufgeregten.
Meinl-Reisinger ist doppelt gefordert. Kracht es einmal zwischen Stocker und Babler, muss sie als Mediatorin dienen. Und in eigener Sache muss sie als Chefin der kleinsten Regierungsfraktion darauf achten, von den größeren Partnern nicht übervorteilt zu werden. Nach 100 Tagen lässt sich sagen: Der Zauber des Anfangs dauert zwischen den Dreien noch an. Ob sie auch Krise können? Dahinter steht noch ein Fragezeichen.
Die Stimmungsmacher
Was auch immer die Regierung vorhat – alles hängt an der Konjunktur. Ohne Wirtschaftswachstum bleiben Steuereinnahmen aus, gibt es keine öffentlichen Investitionen, sind Reformen im Bildungsbereich und beim Klimaschutz unfinanzierbar. Doch laut der Frühjahrsprognose der EU-Kommission wird Österreichs Wirtschaft heuer um 0,3 Prozent schrumpfen. In den anderen 26 EU-Ländern gibt es dagegen zumindest ein schwaches Wachstum.
Die Regierungsmitglieder, die Wachstumsimpulse setzen sollen, sind Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer, ÖVP, und dazu Infrastrukturminister Peter Hanke, SPÖ. Ihr Problem: Kurzfristig geht wenig. Entlastungen für die Industrie, um Investitionen anzukurbeln, sind angesichts der Budgetlage nicht möglich. Im Gegenteil: Die ÖBB muss ihre Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur aus Spargründen reduzieren. So müssen Hattmannsdorfer und Hanke darauf hoffen, dass sich das riesige – schuldenfinanzierte – 500-Milliarden-Euro-Paket für Infrastruktur und Klimaschutz der neuen deutschen Bundesregierung auch positiv auf das Wachstum in Österreich auswirkt.
Einig sind sich die Minister darin, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung zu erhöhen. Österreich bleibt ein Exportland, steckt aber in der „Mid-Tech-Falle“. Der Anteil der Hochtechnologie-Produkte am Gesamtexport lag in Österreich 2022 bei 13 Prozent, im EU-Schnitt bei 17 Prozent. Auch die allgemeine Lage ist nicht gerade rosig. Von 2023 auf 2024 gingen die Gesamtexporte um zehn Milliarden Euro zurück. Österreichs Produkte sind zu teuer, vor allem aufgrund der hierzulande hohen Energiepreise. Kein Wachstum ohne Optimismus: Wolfgang Hattmannsdorfer und Peter Hanke sind auch als Minister für die gute Laune gefragt – was durchaus passt: Beide gelten in ihren Parteien als konkurrenzlose Strahlemänner.
Der milde Klassenkämpfer
Es wäre für Markus Marterbauer, SPÖ, die Gelegenheit gewesen, endlich auch einmal Zuckerl zu verteilen. Immerhin müssen für sein Sparbudget alle Bevölkerungsgruppen in einen sauren Apfel beißen – Arme, Reiche, Familien, Pensionisten, Junge. Doch der Finanzminister parierte den Vorstoß mehrerer Landeshauptleute, das Trinkgeld von Sozialabgaben zu befreien. Sein Argument mag dem einzelnen Kellner nicht schmecken. Doch es ist – wie immer bei Marterbauer – ein Plädoyer für ein gut finanziertes Sozialsystem: „Wenn man weniger Abgaben einzahlt, werden auch Pension und Arbeitslosengeld niedriger.“
Der in Schweden geborene Ökonom hat sein ganzes Leben dem Sozialstaat verschrieben – für alle, nicht nur für die Ärmsten. Deswegen verlangt er in Zeiten der schweren Budgetkrise auch von Ärmeren einen Beitrag. Seine klare Linie und die Aura des Fachmannes haben ihn laut Umfragen zum beliebtesten Minister gemacht. Und das war vielleicht die größte Überraschung. Eilte Marterbauer doch der Ruf des Klassenkämpfers aus dem linken Flügel voraus.
Der ist er noch immer. Nur versteckt. Seine Leidenschaft für Vermögensteuern unterdrückt er aus Staatsräson. Doch bevor er „im System spart“, wie ihm wirtschaftsliberale Ökonomen mit Blick auf die vierthöchste Abgabenquote in der EU zurufen, lässt er lieber das Justizministerium Gerichtsgebühren erhöhen, das Verkehrsministerium sich höhere Dividenden von der staatlichen Asfinag ausschütten oder Ministerien weniger Miete an die staatseigene Immo-Gesellschaft zahlen.
Die Boulevard-Posaune
Sebastian Kurz wurde mit 27 Jahren Außen- und Integrationsminister. Claudia Plakolm, ÖVP, war drei Jahre älter, als sie im März als Ministerin für Integration, Europa und Familie angelobt wurde. Als Kurz’ Markenzeichen brannte sich das „Geilomobil“ aus einem Wien-Wahlkampf ein. Die Oberösterreicherin pflegt ihr ländliches Image mit der Posaune.
In Sachen Integration spielen sie dasselbe Lied. Weil Plakolm Projekte weiterführt, die Kurz unerledigt hinterließ, darunter das Kopftuchverbot für Mädchen oder eine bundesweite Reform der Sozialhilfe für Flüchtlinge – beides gekippt vom Verfassungsgericht. Auch andere Projekte wie eine rot-weiß-rote Imam-Ausbildung blieben Stückwerk (es predigen nach zehn Jahren noch immer keine „Eigenbau“-Imame).
Plakolm versucht, eigene Akzente zu setzen, wie das am Mittwoch von der Regierung angekündigte Verbot der Cousin- und Cousinen-Ehe, das Eheverbot unter 18 oder ein „Hassprediger“-Register. Plakolm versteht es, wie einst Kurz den Boulevard mit harten Ansagen maximal zu bespielen. Auf Social Media mischt sie das Ganze mit Alltagsszenen (Palmweihe) im oberösterreichischen Dialekt („Griaß eich!“).
Jung, kantig, erdig. In einer Zeit multipler Integrationsprobleme kann Plakolm dieses Image fast nach Belieben pflegen. Am Ende zählt aber nicht, was sie ankündigt, sondern was sie auf den Boden bringt. Das sollte man aus der Ära Kurz gelernt haben.
Der Fehlstarter
Sepp, was machst du? Der als Social-Media-Koch bekannte Gastronom Sepp Schellhorn, Neos, tourt derzeit durchs Land. Wohl mit seinem Dienstwagen, der ihn zur Zielscheibe machte. Ausgerechnet der Staatssekretär für Deregulierung stockte zum Amtsantritt von einem Audi A6 auf einen A8 in der Langversion auf. Für mehr Beinfreiheit. Ein gefundenes Fressen für die Opposition und die Tageszeitung „Heute“.
„Das ist eine Wort-Bild-Schere, aus der du schwer rauskommst“, sagt ein ÖVP-Politiker, der ihn schon länger kennt. „Vor allem, wenn du dann noch in den Fettnäpfchen-Topf greifst.“ Schellhorn sah sich nach Beschimpfungen an die Judenverfolgung in der Nazi-Zeit erinnert, entschuldigte sich aber dafür.
Seine Selbstbeschreibung „Ich sage, was ich denke, unverblümt, echt und direkt“ schadet ihm plötzlich. In einer bisher überraschend disziplinierten Dreierkoalition bot er die einzige Angriffsfläche. Seinen Versuch, mit einer Dienstwagenreform aus der Sackgasse zu kommen, ließen die Regierungskollegen ins Leere laufen.
Also Sepp, was machst du? Schellhorn richtet eine Entbürokratisierungsstelle ein und stockt sein Büro dafür von sieben auf 15 Personen auf. Er selbst sieht ganz Österreich als Arbeitsplatz und will quer durchs Land möglichst viele Menschen und Unternehmer treffen, um ihre Ideen für einen schlankeren Staat einzusammeln.
Den Wunsch nach Beinfreiheit im fahrenden Überlandbüro könnte man fast nachvollziehen. Doch so unkonkret die Mission des Deregulierungs-Staatssekretärs, angesiedelt im fachfremden Außenamt, so konkret die gefahrenen Kilometer. Die werden ihm sicher bald vorgerechnet werden, sofern er nicht verstärkt die Bahn nutzt.
Die Maschinisten
Die Betriebsanleitung für die Koalition ist das 210 Seiten starke Regierungsprogramm. Damit das Werkl auch läuft, braucht es Maschinisten. Regierungskoordinator der ÖVP ist Alexander Pröll, Staatssekretär im Kanzleramt. Für die SPÖ koordiniert Michaela Schmidt, Sport-Staatssekretärin unter Vizekanzler Andreas Babler, und für die Neos Armin Hübner, einst Direktor des Parlamentsklubs und nun im Kabinett von Außenministerin Meinl-Reisinger.
Gemeinsam sind die drei für die inhaltliche und terminliche Abarbeitung des Regierungsprogramms verantwortlich. Im Ministerrat gilt das Einstimmigkeitsprinzip, daher müssen die Beschlüsse von den drei Koordinatoren gut vorbereitet und etwaige Stolpersteine beseitigt werden. Der Ministerrat tagt jeden Mittwoch, am Dienstag setzen sich die Regierungskoordinatoren zusammen. Dabei geht es nicht nur um Sachpolitik, sondern auch um politisches Marketing. Die Parteien dürfen abwechselnd Duftmarken setzen. Die Koordinierung ist durchaus aufwendig. Sowohl Schmidt als auch Pröll gaben an, dass rund 50 Prozent ihrer Arbeitszeit in die koalitionäre Koordinierung gehen. So hoch ist also der Preis der Dreisamkeit.