Abbey Clements am Parteitag der Demokraten, August 2024

Überlebende eines US-Amoklaufs: „Ich trage diesen schrecklichen Tag mit mir“

Wie die Lehrerin Abbey Clements den Massenmord an der Sandy Hook Elementary School überlebte und ins Leben zurückfand.

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Abbey Clements arbeitete 32 Jahre lang als Volksschullehrerin in Newtown, Connecticut. Sie ist eine Überlebende des Amoklaufs an der Sandy Hook Elementary School am 14. Dezember 2012, bei dem 20 Erstklässler, fünf Lehrerinnen und eine Schulpsychologin ermordet wurden. Der 20-jährige Attentäter tötete sich anschließend selbst. US-Präsident Barack Obama erzählte später in einem Interview, dies wäre der schlimmste Tag seiner Präsidentschaft gewesen. Clements engagiert sich bei „Everytown Survivor Network“ und „Moms Demand Action“, zwei Organisationen, die sich dem Schutz vor Waffengewalt verschrieben haben. Dazu ist sie Gründerin und Direktorin von „Teachers Unify to End Gun Violence“. Im August 2024 hielt sie eine Rede beim Parteitag der Demokraten in Chicago, auf dem Kamala Harris zur Präsidentschaftskandidatin nominiert wurde. Gemeinsam mit neun weiteren Überlebenden von School Shootings in den USA solidarisiert sie sich in einem von profil veröffentlichten offenen Brief mit den Opfern von Graz und kritisiert darin die Waffenindustrie. Das Interview wurde von der NGO „Everytown for Gun Safety“ vermittelt und schriftlich auf Englisch geführt.

Frau Clements, wie lange engagieren Sie sich bereits gegen Waffengewalt in den USA?

Abbey Clements

Ein paar Monate nach der Schießerei in Sandy Hook nahm ich an meinem allerersten Treffen von Aktivistinnen und Aktivisten teil. Ich habe sofort gewusst, dass das genau meine Leute sind. Ich lernte andere Überlebende von Waffengewalt kennen und habe ihre Geschichten gehört. Ich bin Menschen begegnet, die sich gegen diese regelrechte Epidemie der Waffengewalt zur Wehr setzten. Ich begann, mich mit Statistiken zu beschäftigen, und schloss mich Organisationen an. 

Dass Schüler und Lehrer Opfer einer Schießerei werden können, war in Österreich bisher undenkbar.

Clements

In den USA ist Waffengewalt die häufigste Todesursache bei jungen Menschen. Auch für Lehrerinnen und Lehrer sind die Auswirkungen erheblich. Daher habe ich vor einigen Jahren mit zwei anderen Lehrern und Aktivisten unsere Organisation „Teachers Unify to End Gun Violence“ ins Leben gerufen. Wir wollen der Politik und der Bevölkerung deutlich machen, welche reale Angst vor Waffengewalt in Schulen und Gemeinden herrscht.

Welche Erinnerungen haben Sie an den Tag der Schießerei an Ihrer Volksschule?

Clements

Ich erinnere mich, dass der 14. Dezember 2012 kalt und sonnig war. Ich kam wie üblich zur Arbeit, um meine Zweitklässler an der Sandy Hook Elementary School zu unterrichten. Ich schaute kurz im Sekretariat vorbei und unterhielt mich mit meiner Direktorin. Es sollte der letzte Tag sein, an dem ich einen Fuß in diese Schule setzte.

Und was passierte dann?

Clements

Meine Schüler und ich hatten unseren Morgenkreis, als ich plötzlich Geräusche hörte, die ich für umfallende Metallstühle hielt. Dann realisierte ich, dass es Schüsse waren. Und die Schüsse hörten nicht auf, insgesamt waren es 154. Meine Schüler und ich versteckten uns zwischen den Jacken, die an einer Wand hingen. Ich sang und las meinen Schülern vor, um die schrecklichen Geräusche zu übertönen. Jemand fing an, an die Tür unseres Klassenzimmers zu hämmern, und schrie, wir sollten öffnen und rauskommen. War das wirklich die Polizei, wie sie sagten, oder waren es die Attentäter? Ich sehe immer noch die Polizisten vor mir, ich renne, ich spüre die kalte Luft, meine Schüler huschen vorbei, einige ducken sich in meine ausgestreckten Arme. Ich halte die Gefühle und Bilder dieses schrecklichen Tages immer noch in mir. Zwanzig unschuldige Erstklässler und sechs Kolleginnen wurden getötet. Sie sollten immer noch hier sein.

Wie waren die Tage, Wochen und Monate nach dem Vorfall für Sie?

Clements

Nach der Schießerei unterrichtete ich weiter in Newtown. Ich brauchte eine Zukunftsperspektive, um das Erlebte zu bewältigen. Ich glaube nicht, dass unser Land gut mit Trauer umgeht. Es scheint diese Erwartung zu geben, dass wir schnell wieder auf die Beine kommen und nach solchen Traumata weitermachen sollten. Das ist einfach absurd. Es braucht mehr Raum für Reflexion, Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung. Jeder, der eine traumatische Erfahrung gemacht hat, kann von einer Art Gemeinschaft profitieren. Die Gemeinschaften, die mich in den ersten Monaten aufgefangen haben, waren das Everytown Survivor Network und Moms Demand Action.

Inwiefern hat diese Erfahrung Ihr Leben weiter geprägt?

Clements

Ich trage diesen schrecklichen Tag mit mir. Die Auswirkungen von Waffengewalt sind in den Klassenzimmern im ganzen Land zu spüren. Pädagogen sind jeden Tag mit den Ängsten ihrer Schüler konfrontiert. Schüler sind müde, haben Konzentrationsprobleme und Lernschwierigkeiten, oder brauchen einfach nur Aufmerksamkeit und mehr Fürsorge. Eltern haben Angst, dass ihre Kinder nicht nach Hause kommen. Und Lehrer haben Angst, dass ein Tag kommen könnte, an dem sie ihre Schüler im Ernstfall schützen müssen.

Was hat Ihnen geholfen?

Clements

Jeder Mensch muss nach so einem Erlebnis seinen eigenen Weg gehen. Für mich gab es nur diesen einen: aktiv zu werden. Ich musste mich engagieren, organisieren und alles tun, was in meiner Macht steht, um solche Tragödien künftig zu verhindern.

Nach School Shootings wird wenig über die Folgen für die Lehrerinnen und Lehrer gesprochen.

Clements

Viel zu lange wurde die Perspektive von Lehrkräften in politischen Debatten und Sicherheitsdiskussionen ignoriert. Die Politik muss verstehen, wie sich die Bedrohung durch Waffengewalt auf Lehrer und das Schulpersonal auswirkt, vor allem in ihrer Verantwortung als Betreuer. Die Bewaffnung von Lehrern und die Überwachung der Schulen sind keine Antwort. Auch nicht die Anordnung von Alarmübungen, wie sich Lehrer und Schüler bei Schießereien verhalten sollen. Solche Übungen haben eine traumatisierende Wirkung.

Gedenkstätte für die Opfer von Sandy Hook

Wie sind Sie mit der Berichterstattung der Medien umgegangen?

Clements

Die Medien sind zu einem Zeitpunkt eingefallen, als die Überlebenden kaum einen klaren Gedanken fassen konnten. Viele von uns aßen nichts und schliefen nicht. Ich konnte kaum atmen, geschweige denn mit Medien sprechen, obwohl ich wusste, dass es wichtig wäre, das zu tun.

Medien müssen aktuell berichten.

Clements

Viele Überlebende haben Schwierigkeiten, in den Tagen, Monaten oder sogar Jahren nach einem Amoklauf über ihre Erfahrungen zu sprechen – falls überhaupt. Das führt leider dazu, dass genau diese Stimmen oft fehlen. Mein Rat an die Medien: Sucht auch noch Monate und Jahre später den Kontakt. Bemüht euch um echte, respektvolle Beziehungen, wenn die Betroffenen offen dafür sind. Denn diese Perspektiven sind wichtig. Auch wenn sie nicht bereit sind zu sprechen – es ist ermutigend, gefragt zu werden und die Möglichkeit zu haben, etwas zu sagen.

Wie gehen Sie mit Jahrestagen oder Berichten über andere Schießereien an Schulen um?

Clements

Grundsätzlich rate ich dazu, die Jahrestage nicht zu ignorieren. Es ist eine Zeit erhöhter emotionaler Belastung, die ganz unterschiedlich erlebt werden kann. Es kann eine sehr schwierige Zeit sein, aber sie kann Überlebende auch ermutigen, ihre Stimme zu erheben. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, den Jahrestag zu begehen. Die Gemeinden und Schulen sollten verschiedene Möglichkeiten anbieten, wie Betroffene trauern, erinnern oder auch nur das Verstreichen eines weiteren Jahres begehen können. Für mich ist dieser Tag immer schwer, aber es hilft mir sehr, mit anderen Überlebenden, Freunden und meiner Familie zusammen zu sein.

Dass die Zeit alle Wunden heilt, ist wohl nur eine Floskel.

Clements

Heilung ist kein kurzfristiger Prozess. Sie kann eine jahrelange oder auch lebenslange Reise sein. Es geht darum, den Betroffenen Raum und Zeit zur Heilung zu lassen. Überlebende dürfen nicht zur Rückkehr in die Normalität gedrängt werden. Jeder Mensch hat ein Recht auf sein eigenes Tempo.

Wie sind Sie zu dem Schluss gekommen, dass es die beste Entscheidung für Sie ist, weiter zu unterrichten?

Clements

Schulen sollten sichere Orte für Kinder sein – und damit auch für das gesamte Schulpersonal. Ich kenne keine Lehrkraft und keinen Überlebenden, die sich nicht gefragt haben, ob sie diesen Beruf weiter ausüben können. An den Ort der Tragödie zurückzukehren, als ob alles normal sei. Der Lehrerberuf ist einzigartig. Es ist schwer, aus ihm auszusteigen. Man sagt, es sei eine Berufung. Es war der einzige Beruf, den ich je wollte. Viele Überlebende fühlen sich tief mit dem Wunsch verbunden, für ihre Schülerinnen und Schüler da zu sein und kehren deshalb zurück. Mein Appell an die Verantwortungsträger ist: Gebt Lehrerinnen und Lehrern Zeit und Raum für langfristige Heilung. Zeigt Mitgefühl und sorgt für ihr Wohlergehen, damit sie die ihnen anvertrauten Kinder unterstützen können.

In Ihrem offenen Brief an die Opfer von Graz kritisieren Sie massiv den österreichischen Pistolen-Produzenten Glock.

Clements

Es ist höchste Zeit, die Rolle der Waffenindustrie zu beleuchten. Sie hat dazu beigetragen, dass Schulen in den USA gefährliche Orte für Kinder geworden sind. Die Waffenindustrie hat Blut an den Händen, sie stellt Profite über Sicherheit. Ich bin stolz darauf, im Namen von Lehrern und Schülern zu fordern, dass sich das ändert.

Wie kann es nach einem derartigen Attentat weitergehen? Welche Rolle spielte die Gemeinde von Newtown dabei?

Clements

Überlebende benötigen Zugang zu Trauma-Therapien durch ausgebildete Fachkräfte und Selbsthilfegruppen. Die Opfer wissen selbst am besten, was sie brauchen. Lehr- und Schulpersonal benötigen besondere Fürsorge. Vor allem die Lehrer sind oft die Ersten, die merken, wenn Kinder nach einem Trauma Anzeichen von Erschöpfung, Depression oder Lernschwierigkeiten zeigen.

Gibt es etwas, das Sie anderen Menschen sagen möchten, die etwas Ähnliches durchmachen?

Clements

Ich erinnere mich, dass ich in den Wochen nach der Tragödie von Sandy Hook sehr wütend war. Besonders geprägt hat mich die Begegnung mit Überlebenden des Amoklaufs an der Columbine High School 1999. Wir hatten so vieles gemeinsam – sie konnten mir Antworten geben: Wie man Kinder mit Traumata unterstützt, wie man selbst anfängt, das Erlebte zu verarbeiten. Zu wissen, dass es ein Netzwerk von Lehrerinnen und Lehrern gibt, die Ähnliches erlebt haben, hat mir sehr geholfen. Man muss sich gegenüber anderen Überlebenden eines Schulamoklaufs nie erklären. Graz ist nicht allein. Es gibt Netzwerke von Überlebenden in den USA, die bereit sind, die betroffenen Schüler und Lehrer in Graz auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen. Meine Botschaft: Bitte zögert nicht, euch an uns zu wenden.

Gernot Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und seit 2025 Leiter des Innenpolitik-Ressorts. Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl.