Ratlose Retter: Die Schneemassen machen den Helfern in Hohenberg die Bergung von zwei Vermissten schwer.

Einsatz am Limit: Bergretter erzählen von ihrer Suche nach Verschütteten

Auf der Suche nach Lawinenverschütteten und Vermissten riskieren Bergretter ihr Leben. Zwei Helfer erzählen von leeren Leichensäcken, der Routine im Ausnahmezustand und vom Schwinden der Hoffnung.

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Das Wetter hat sich der Stimmungslage in der Einsatzzentrale der Bergrettung in Hohenberg angepasst. Draußen grauer Himmel, Schneeregen und Matsch; drinnen hält Einsatzleiter Robert Salzer die Stellung. Seit drei Tagen sucht der Bergretter mit ehrenamtlichen Helfern nach zwei vermissten Skitourengehern, die von einer Tour nicht wieder heimgekehrt waren. Salzer, ein drahtiger Mittfünfziger in Skihose und Bergrettungs-Pullover, ist die Erschöpfung am vergangenen Dienstag anzusehen. Mit jeder Stunde schwinden die Chancen, die Abgängigen noch lebend zu finden.

„Ich brauche niemanden belügen“, sagt Salzer. „Die Wahrscheinlichkeit ist am dritten Tag nicht mehr sehr hoch.“ Der Realismus gehört zur Job Description der Bergretter. Einen Funken Hoffnung hat sich Salzer dennoch bewahrt, dass es zu einem dieser Glücksfälle kommt, wo die Realität die Statistik Lügen straft: „Wir gehen von einer Verschüttung aus. Aber vielleicht sind die beiden gar nicht unter einer Lawine, sondern liegen in einer Schneehöhle begraben.“

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Die Neuschneemassen haben das Lawinenrisiko in weiten Teilen der Alpen massiv erhöht, die Bergrettung ist im Dauereinsatz. Die Freiwilligen suchen nach Vermissten und Lawinenverschütteten, insgesamt rücken sie 9000 Mal pro Jahr aus, bergen 7600 Personen – und bringen sich dabei oft selbst in die Gefahrenzone. Zwei erfahrene Helfer erzählen von kleinen Wundern, toten Kindern und der verbesserten Rettungskette.

Hohenberg, Niederösterreich, am Dienstag: Bergretter Salzer bespricht die Lage mit Alpinpolizei und Bundesheer. Auf einer großen Karte deutet Salzer auf den Punkt, an dem er die Vermissten vermutet. Mittels Helikopterflügen und Hinweisen anderer Tourengeher wurde ein Steilhang als primäres Suchgebiet identifiziert. Die Hangneigung beträgt dort bis zu 40 Grad. Heftiger Schneefall und die erhebliche Lawinengefahr zwingen die Helfer zum Unterbrechen der Suchmission. Nun wird im Einsatzbüro diskutiert, ob es verantwortbar ist, wieder ein Team in den Hang zu schicken. „Nicht mal wir als Profis gehen dort derzeit rauf, es ist zu gefährlich“, erklärt der Einsatzleiter.

Wir raten dringend von einer Suche in Eigenregie ab. Das ist lebensgefährlich. (Bergretter Robert Salzer)

Es sind bittere Stunden für die Helfer. Die Zeit läuft davon, sie müssen auf einen Wetterumschwung hoffen. In der Zwischenzeit heißt es: Unter keinen Umständen Informationen zum Suchgebiet preisgeben. Salzer: „Wir raten dringend von einer Suche in Eigenregie ab. Das ist lebensgefährlich.“ Bei anderen Rettungseinsätzen ist es schon vorgekommen, dass Angehörige nach den Vermissten gesucht haben.

Was die Mission in Hohenberg so schwierig macht: Anders als bei den meisten Rettungseinsätzen ist kein Notruf mit einer ungefähren Lokalisierung der Gesuchten eingegangen, sondern eine Vermisstenanzeige. Die Bergretter mussten sich über den Standplatz des Autos erst an die mögliche Route der Tourengeher herantasten. Zum profil-Redaktionsschluss war die Suche noch im Gange.

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Die Dienste der Bergrettung bleiben gefragt. In der Vorwoche kritisierte der Chef der Freiwilligenorganisation die „Vollkasko-Mentalität“ von Bergsportlern und meinte damit erhöhte Risikobereitschaft. Das ist allerdings nicht der einzige Grund für die steigende Zahl der Bergrettungseinsätze. Der Alpinismus boomt – immer mehr Wanderer, Mountainbiker, Skitourengeher und Schneeschuhwanderer bahnen sich Wege zum Gipfel. Damit nimmt auch die Zahl der Unfälle zu.

Trotz zweieinhalb Millionen Wanderern und 700.000 Skitourengehern blieb die Zahl der Alpintoten in den vergangenen Jahren konstant, rechnet Karl Gabl vor. Er ist Präsident des Kuratoriums für alpine Sicherheit – zwischen 260 und 300 Tote gibt es jährlich, wobei ein Drittel der tödlichen Unfälle auf eine vermeintlich ungefährliche Sportart entfällt: das Wandern. Und die Lawinentoten sind sogar rückläufig: „Bis 2011 hatten wir über Jahrzehnte im Durchschnitt 25 Tote pro Jahr. Erfreulicherweise zählten wir von 2011 bis 2018 um 30 Prozent weniger Tote, etwa 18.

Wenn Kinder unter den Opfern sind, hat mich das immer sehr betroffen gemacht. (Hermann Spiegl, Bergrettung Tirol)

In Tirol, wo die Berge hoch und felsig sind und der Alpinismus Volkssportcharakter genießt, zählt die Bergrettung mehr als 4000 ihrer 10.000 freiwilligen Mitglieder. Hermann Spiegl ist seit Jahrzehnten dabei. Dass er sich heute als „glühenden Bergretter“ bezeichnet, hat mit eigenem Leichtsinn zu tun. Es war eine Skitour im Frühjahr vor 34 Jahren, die den heute 63-jährigen Tiroler beinahe das Leben gekostet hätte. Die Aussicht auf eine herrliche Pulverschneeabfahrt ließ den Spross einer Bergsteigerfamilie jedes Risiko vergessen. Statt sich und seine beiden Freunde anzuseilen, ließ er das Seil in seinem Rucksack und fuhr los.

Hermann Spiegl, Landesleiter der Tiroler Bergrettung

Die Fahrt endete mit dem Sturz in eine Gletscherspalte. Aufprall nach zehn Metern. Mit gebrochener Schädeldecke, Hirnquetschung und gebrochenem Finger harrte Spiegl in der Spalte aus. Seine Freunde konnten nichts anderes tun, als ins Tal zu fahren, schließlich hatte der Verunfallte das Seil bei sich. Erst am nächsten Tag konnte Spiegl von der Bergrettung geborgen werden – stark unterkühlt. „Ich hatte etwa 30 Grad Körpertemperatur, das war für meine Verletzungen aber ganz gut“, sagt der Bilderbuch-Bergfex heute. Nach diesem Erlebnis verschrieb sich Spiegl ganz dem Ehrenamt – von der Flugrettung über die Hundestaffel führte ihn sein Weg bis zum Landesleiter der Tiroler Bergrettung.

Spiegl erlebte die Gewalten der Natur in all ihren Facetten. Er erzählt, wie er und sein Team bei der Bergung eines Verletzten von einer Eislawine überrascht wurden – ein Retter erlitt einen offenen Bruch, der Patient bekam nichts ab, weil er in einer Nische lag, die ihm die Helfer für die Erstversorgung gegraben hatten.

„Wenn Kinder unter den Opfern sind, hat mich das immer sehr betroffen gemacht“, sagt Spiegl. Auch ein Einsatz Ende der 1980er-Jahre geht ihm bis heute nicht aus dem Kopf: „Da ist ein Helikopter bei einem Lawineneinsatz abgestürzt. Wir sind in der Nacht gerufen worden und haben die Bergung gemacht. Der Arzt, der Sanitäter und ein Patient waren tot.“ Ein Helfer überlebte den Absturz, er sitzt heute im Rollstuhl und bedankt sich immer, wenn er Spiegl sieht. „Wenn ich den treffe, da verschlägt es mir bis heute die Stimme.“

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Wie der Bergretter damit fertig wird? „Gewisse Sachen kann man nie ganz abarbeiten, die trägt man mit sich herum. Das Beste sind für mich Gespräche mit Kameraden auf Augenhöhe und möglichst gleich nach dem Einsatz.“

Spiegl schwärmt für den technologischen Fortschritt. Mittels Digitalfunk und Echtzeit-Bereitschaftsmeldung sind die Bergretter heute deutlich schneller am Unfallort als früher. Das ist vor allem bei Lawinen wichtig, wo die Helfer einem Wettlauf gegen den Erstickungstod ausgesetzt sind. „Lawinen waren ohne Kameradenrettung früher meistens eine sichere Katastrophe. Heute kann man sich aufgrund einer optimalen Rettungskette öfter über Lebendbergungen freuen.“ Der inzwischen pensionierte Maschinenbautechniker fuhr früher in Skimontur zur Arbeit, im Auto wartete der Lawinenhund. Im Bedarfsfall waren die beiden in der Sekunde einsatzbereit.

Immer trifft es mich mit diesen Scheißeinsätzen.

Bergretter entwickeln über die Jahre eine Abgebrühtheit, die beinahe makaber anmutet. Als Flugretter wurde Spiegl einmal zu einem Einsatz gerufen, drei Wanderinnen waren auf einem Schneebrett abgerutscht. „Ich kannte die Stelle gut und dachte mir: Da gibt es sicher Tote. Also habe ich drei Leichensäcke eingepackt und wir sind losgeflogen.“ Während des Fluges, erzählt Spiegl, habe er mit dem grausigen Anblick gehadert, der sich ihm gleich bieten würde: „Immer trifft es mich mit diesen Scheißeinsätzen“, sagte er zum Notarzt. Am Einsatzort angekommen, bot sich den Rettern eine freudige Überraschung: Die Frauen hatten sich an Sträuchern festhalten und so ihren Absturz verhindern können.

Bis auf ein paar Schürfwunden waren sie unverletzt geblieben.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.