Corona: Die Choreografie des Abstands

Im öffentlichen Raum wird die Distanz neu vermessen. Edith Meinhart über die Freiheit, geradeaus zu gehen oder einen Bogen zu schlagen.

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Von der Terrasse eines Kaffeehauses in Hanoi auf eine belebte Kreuzung zu blicken, gehört zu den unvergesslichen Eindrücken einer Vietnam-Reise. Wie viele Schrammen, Stürze, Zusammenstöße ereignen sich vor dem geistigen Auge, zu denen es in Wirklichkeit nie kommt, weil sich die unentwegt entstehenden Knäuel aus Fußgängern, Rädern, Mopeds und Autos jedes Mal im letzten Moment auflösen und Menschen und Maschinen unversehrt aneinander vorbeigleiten. Zu Irritationen kommt es nur, wenn Touristen, die dieses Gespinst an asiatischen Abstands-und Ausweichregeln noch nicht eingeübt haben, die Szenerie betreten.

Wie eine Art Fremdkörper kann man sich neuerdings auch auf eigenem, vertrautem Terrain vorkommen. Nicht so sehr, weil Gasthäuser, Kinos, Museen, Geschäfte, Schulen und Kindergärten geschlossen sind, sondern weil wir angehalten sind, die gewohnten Straßen, Gassen und Plätze nur noch zu betreten, um dringlichen Angelegenheiten nachzugehen, und dabei stets einen Meter Distanz voneinander zu wahren.

Beobachter des gesellschaftlichen Wandels bekommen im öffentlichen Raum derzeit einiges geboten. Vor aller Augen wird in diesen Wochen der schickliche Abstand neu vermessen. Ein Meter ist hierzulande das Mindeste, eineinhalb Meter sind es im Nachbarland Deutschland, zwei Meter im distanzbewussten Großbritannien. Unsere inneren Abstandsmesser werden neu geeicht, alte Regeln gehen über Bord, neue werden erprobt. Es ist erst wenige Wochen her, dass es als Affront galt, vor einem Entgegenkommenden die Straßenseite zu wechseln. Dieses über Dekaden, wenn nicht Jahrhunderte kultivierte Zeichen der Missachtung mutierte unversehens zu einer Geste der Umsicht. 95 Prozent passten sich an die neuen Corona-Zeiten bereits an, sagt die Regierung, die restlichen fünf Prozent müssten noch "überzeugt" werden. Auf welche Weise?

"Strict Father" und "Nurturant Parent"

Der Linguist George Lakoff beschrieb die amerikanische politische Landschaft Mitte der 1990er-Jahre mithilfe zweier Modelle: Im ersten, von Konservativen bevorzugten "Strict Father"-Modell erscheint die Welt als gefährlicher, abgründiger Ort, an dem die Furcht vor Strafen Menschen davor bewahrt, vom rechten Pfad abzubiegen. Das bei Liberalen höher im Kurs stehende "Nurturant Parent"-Modell hingegen vertraut auf Fürsorge, Empathie und Einsicht. In Woche eins der Corona-Krise waren die Rollen in der Regierungsriege klar verteilt. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) verkörperte die nichtautoritäre Vaterfigur, Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) gab den gestrengen Widerpart. Inzwischen hält sich auch Nehammer mit Drohgebärden zurück, spricht von einem "Kulturwandel", erzählt in Radiointerviews vom runden Geburtstag seiner Großmutter, der nun ohne Familienfest und herzliches Umarmen begangen werden müsse, und appelliert, ohne an den Pranger zu stellen: "Jeder kann jetzt zum Lebensretter werden." Die - noch - Unfolgsamen sind mitgemeint.

Das Vertrauen in die menschliche Vernunft ist im Lakoff 'schen Kosmos eine linke Domäne. Der Schwenk des Innenministers mag deshalb vordergründig überraschen. Letztlich praktiziert er schlicht das, was funktioniert. Sprich, nur wenn die Bevölkerung davon ausgeht, dass Politikerinnen und Politiker vernünftig handeln - und umgekehrt -, lässt sich ein Corona-Desaster mit den Mitteln der liberalen Demokratie womöglich abwenden. Soziales Vertrauen ist der wertvollste Rohstoff der Krisenkommunikation. Wie immer sind die Dinge nicht schwarz oder weiß. In der Praxis braucht es sowohl Vertrauen als auch Strafen, sowohl den Gesundheitsminister als auch den Polizeiminister, also das gesamte Repertoire an "Nurturant Parent" und "Strict Father".

Unlängst zitierte der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" die von Thomas Hobbes geprägte Formel "Pro protectione oboedientia". Sie besagt, dass der Staat Schutz bietet und im Gegenzug von den Bürgern Gehorsam erwartet. Krisen seien, so Münkler, gewissermaßen "die Stunde der Exekutive". Für Österreich gilt der Befund eingeschränkt. Zumindest derzeit. Sowohl der Bundespräsident als auch die Regierung rufen das Verantwortungsgefühl der Bürgerinnen und Bürger ab. Ungeachtet der harten Maßnahmen, die in Grundrechte einschneiden, ist die Corona-Krise hierzulande bis dato weniger die Stunde der Polizei als vielmehr des Kant'schen Imperativs.

Sündenbock-Kalkül geht nicht auf

Rechte und Populisten stehen im Eck, weil sie Freund-Feind-Bilder brauchen und Probleme stets auf dem Rücken anderer zu lösen vorgeben. Anders als während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 geht ihr Sündenbock-Kalkül nicht auf. Die Corona-Krise ist nur zu meistern, wenn sich alle im Sinne des gesellschaftlichen Ganzen verhalten. Denn auch eine Minderheit von Quertreibern kann viele anstecken und den Erfolg gefährden. Böse zu jagen, bringt uns also nicht weiter. Es geht tatsächlich um einen "Kulturwandel".

Wie bewegt man Menschen dazu, Höflichkeiten abzulegen und sich neue anzueignen? Eine neue Choregrafie des Abstands im öffentlichen Raum entwickelt sich eben erst. Das lässt in alltäglichen Situationen fast alle Möglichkeiten offen. Erste soziale Schöpfungen werden wirksam, vom "Gruß mit dem Fuß" (Wuhan-Style) bis zur japanischen Verbeugung, die Bundespräsident Alexander Van der Bellen mitten in seiner "Wir befinden uns in einer ernsten Situation"-Rede vor zwei Wochen vorzeigte. Die Geste war als Ermunterung von höchster staatlicher Stelle angelegt, sich selbst etwas einfallen zu lassen -"es darf ja zwischendurch auch ein bisschen Spaß machen". Ein dänisches Möbelhaus malte vor ihren Kassen große Kreise in fröhlichem Rot auf den Boden. Auf dem Bild, das davon auf Twitter kursierte, sieht man Erwachsene, die sich brav darauf stellen und wie Kinder lächeln, die ein neues Spiel entdeckt haben. Schwer vorstellbar, dass grimmige Sicherheitsleute dieselbe Wirkung erzielen könnten.

Auch in der Art und Weise, wie Menschen die Ein-Meter-Regel, die der Gesundheitsminister einmal "fast schon ein Verfassungsprinzip" nannte, im öffentlichen Raum umsetzen, kollidieren verschiedene Freiheitsbegriffe. Mitunter im buchstäblichen Sinne. Soziale Codes, wie sechs Menschen, die an einer Engstelle aneinander geraten, den nötigen Abstand wahren, müssen sich erst etablieren. Zugespitzt formuliert: Wer unter Freiheit versteht, sich von niemandem etwas vorschreiben zu lassen, wird danach trachten, seiner Wege zu ziehen, ohne andere zu beachten. Wer Verantwortung für das Wohl der Allgemeinheit übernimmt, erkennt seine Freiheit genau darin, sich angemessen zu verhalten, also zum Beispiel einen Bogen zu schlagen.

Gute oder böse Masse?

Für Ordnung und Sicherheit ist die Polizei zuständig. Wie bewährt sie sich in einem Land, das nun auf ungewohnten Abstand geht? Lange Zeit stand die Exekutive im Banne Gustave Le Bons, einem der Ahnen der modernen Massenpsychologie. Le Bon betrachtete die Masse als unberechenbares Ungeheuer, das ein Agitator im Nu zu entfesseln vermag: Wehe, wenn sie losgelassen. Dem hielten die Anhänger einer "Elaborated Social Identity" entgegen, dass dem Einzelnen in einer Gruppe mehrere soziale Identitäten zur Verfügung stehen. Auf Social Distancing in Zeiten von Corona umgelegt, bedeutet das, dass man sowohl zu den 95 Prozent als auch zu den fünf Prozent gehören kann, etwa wenn man von Montag bis Samstag zu Hause bleibt, einem am Sonntag aber die Decke auf den Kopf fällt und man sich am Wiener Donaukanal unter zu viele Lichthungrige mischt.

Welches Verhalten sich am Ende unserer Quarantäne-Tage festigt, hängt wiederum davon ab, wie Politiker und Exekutive auftreten. Beschwerden über martialisches Gehabe mehren sich. Auf sozialen Medien ist von Polizeibussen zu lesen, die über vereinsamte Plätze rasen, von Beamten, die herumbrüllen und Randgruppen mit Ausweiskontrollen sekkieren. Die Behörde sollte den Vorwürfen nachgehen. Ernsthaft. Polizeiexperte Philipp Sonderegger beobachtet aber auch "nuancierte Versuche", die Ein-Meter-Regel durchzusetzen. Mitunter lösten sich verbotene menschliche Knäuel auf, weil jemand nach einer halbwegs freundlichen Ermahnung aufsteht, sich entfernt und andere folgen. Nicht nur das Coronavirus ist ansteckend, sondern auch soziales Verhalten.

Menschen tendieren freilich dazu, ungeniert zu leben, ist ihr Ruf erst einmal ruiniert. Steht jemand in der Öffentlichkeit als ruchloser Egoist da, weil er die nötige Distanz im Park nicht wahrt, ist die Chance hoch, dass er sich auch weiter so gebärdet. Wird dieselbe Person als jemand angesprochen, die es eben noch nicht verstanden hat, steht einem Wechsel ins Lager der 95 Prozent nichts im Weg. Eine Regierung, die sich davor hütet, die Guten gegen die Bösen auszuspielen, hat verstanden, dass ein möglicherweise noch Monate währender Ausnahmezustand nur mit einer kooperativen Bevölkerung zu bewältigen ist. Versteht die Mehrheit die Maßnahmen nicht, kippt die Stimmung. Und dann? Schleusen aufstellen, Securitys postieren, Strafen, Einsperren? Die Menge mit Schlagstöcken auseinanderprügeln? In Zeiten von Corona kann nicht nur jeder Leben retten, sondern auch jeder zum Eisbrecher für neue soziale Umgangsformen werden. Lassen wir uns etwas einfallen. Gehen wir es spielerisch an!

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges