Das dreckige Dutzend

Das dreckige Dutzend: Die zwölf Wahlkämpfe des Herbert Lackner

Nationalratswahl. Herbert Lackner vergleicht die zwölf Wahlkämpfe, die er als Journalist begleitet hat

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Manches ändert sich nie. Am Sonntagmorgen klingen dir noch die Jubelchöre von den Schlussveranstaltungen der Parteien in den Ohren, und während erst die Spucke aus den Fanfaren geklopft wird, meldet sich schon St. Ilgen.

St. Ilgen, Bezirk Bruck/Mur, 237 Wahlberechtigte, mag jahrelang dahindösen – an Wahlsonntagen richten sich alle Augen auf die steirische Kleingemeinde. Denn die St. Ilgener schließen ihre Wahllokale schon um 9 Uhr, und bald darauf geht die erste heiße Meldung des Wahltags ans Netz: das Ergebnis von St. Ilgen.

1975
So ist es in meinem Fall schon zwölf Wahlsonntage lang. Begonnen hatte es 1975. Bruno Kreisky war seit fünf Jahren Bundeskanzler, die ÖVP hatte den Kärntner Karl Schleinzer als Gegenkandidaten nominiert.

In einem Hintergrundgespräch mit Journalisten im Kanzlerzimmer des Parlaments gab sich Kreisky gelassen: Schleinzer fürchte er nicht, aber die ÖVP habe einen Mann in Reserve, von dem er große Stücke halte: Josef Taus, den Generaldirektor der Girozentrale. Zwei Wochen später –
Schleinzer war bei einem Autounfall nahe Leoben ums Leben gekommen – war Kreiskys Angstgegner ÖVP-Spitzenkandidat.

Die SPÖ des Weltbürgers Kreisky inszenierte sich als betuliche Heimatpartei: Ab August wurden heimkehrende Urlauber an der Grenze mit Blümchen-Polsterln empfangen. Aufdruck: „Zu Hause ist es doch am schönsten – SP֓.

Allzu heimatduselig mochte es Kreisky aber nicht. Auf der Wahlreise durch Kärnten bestand er am Frühstückstisch darauf, dass sein von der Parteizentrale gestellter Reisemarschall sofort den mitgebrachten Kärntner Anzug ausziehe.

Am 5. Oktober gewann die SPÖ 0,4 Prozentpunkte hinzu und festigte ihre Absolute (50,4 Prozent).

Vier Jahre später, 1979, betrat mit Alexander Götz ein aggressiver Politikertyp die Bühne. Der neue FPÖ-Chef war mit Hilfe der ÖVP Bürgermeister von Graz geworden, was die SPÖ vermuten ließ, hier bahne sich Schwarz–Blau an, sollte sie nicht mehr die Absolute schaffen. Götz war auf dem glatten Parkett der Bundespolitik nicht sehr trittsicher. Der liebste Ort in Wien sei ihm der Südbahnhof, weil er von dort wieder schnell in Graz sei, diktierte er verblüfften Reportern in die Blöcke.

Die ÖVP wiederum versuchte einen Wahlkampfapparat jenseits der Funktionärskader aufzubauen, sogenannte „Ranger“, zuständig für Flüsterpropaganda aller Art. Die SPÖ schleuste einen jungen Journalisten bei den „Ranger“ ein, der später bei der FPÖ Karriere machen sollte, und war so bereits im Vorfeld über alle Aktionen informiert. Enttarnt wurde der Spion nie.

Am 6. Mai fuhren Kreisky und sein Wahlkampfleiter Karl Blecha mit 51,03 Prozent den größten Wahlsieg ihrer Geschichte ein.

1983 war Kreisky, damals 72, bereits schwer angeschlagen. Der Konflikt mit Hannes Androsch, vor allem aber seine schwindende Gesundheit machten ihm schwer zu schaffen. Der Kanzler war an einer Bostoner Klinik wegen eines Gefäßverschlusses im Auge mit hochdosierten Medikamenten behandelt worden, die seine durch Bluthochdruck und Diabetes vorgeschädigten Nieren weiter zerstörten: Im Wahlkampf war Kreisky Dialysepatient.

Seine Jahresabschluss-Pressekonferenz im Dezember 1982 im Presseclub Concordia war bereits eine Stunde dahingeplätschert, als Josef Nowak von der „Tiroler Tageszeitung“, Vater des heutigen „Presse“-Chefredakteurs, noch eine Routinefrage stellte: ob der Kanzler ausschließen könne, dass es in der nächsten Periode neue Steuern geben werde. Der geschwächte Kreisky mochte dies nicht ausschließen. Der Wahlkampf hatte sein Thema.
Eine Woche vor der Wahl fand das TV-Duell zwischen dem Bundeskanzler und seinem Herausforderer Alois Mock statt. Am Nachmittag vor der Diskussion bestellte Kreisky eine Gruppe Vertrauter, darunter auch mich (ich war kurz zuvor auf sein Betreiben Vize-Chefredakteur der „Arbeiter Zeitung“ geworden), ins Café Imperial, um die Sendung zu besprechen. Wir gaben uns große Mühe. Kreisky hörte uns müde zu, am Abend
hatte er alle Tipps vergessen.

1983
Am 6. März 1983 verlor die SPÖ die absolute Mehrheit, Kreisky zog sich aus der Politik zurück. Er hatte zuvor noch eine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ eingefädelt, die sich als nicht lebensfähig herausstellte: In der SPÖ gab es schwere Vorbehalte gegen den Bund mit den Rechten, in der FPÖ schoss der Flügel um den ehrgeizigen Jörg Haider Sperrfeuer gegen die eigene Regierungsfraktion. 1986 wurde Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten gewählt – die Regierung unter Fred Sinowatz war am Ende. Die SPÖ lag in den Umfragen deutlich hinter der ÖVP, die FPÖ war auf drei Prozent abgesackt.

1986

Der von Sinowatz jetzt als Kanzler installierte Franz Vranitzky hasardierte: Als sich Haider im September 1986 an die FPÖ-Spitze putschte, kündigte er trotz des eigenen Rückstands in den Umfragen die Koalition auf. Haider war entsetzt, damit hatte er nicht gerechnet. Vranitzkys Volte machte sich bezahlt: Zwar verlor die SPÖ bei den Wahlen im November 1986 deutlich, blieb aber Nummer eins.

1990
Vor den Wahlen 1990 reiste Vranitzky zu Präsident George Bush in die USA. Die ÖVP machte Druck: Vranitzky müsse Waldheim von der „Watch List“ bekommen, das Einreiseverbot für den Bundespräsidenten müsse aufgehoben werden. Ohne großen Eifer trug Vranitzky das Anliegen im Oval Office vor. Zurück in Wien bat ich – inzwischen Innenpolitik-Redakteur bei profil – die Spitzenkandidaten der Parteien zum Test ins Fitness
center. Der ehemalige Sportstar Vranitzky konnte wegen eines kaputten Knies nicht teilnehmen, ÖVP-Obmann Josef Riegler zeigte die beste Kondition, während FPÖ-Spitzenkandidat Norbert Gugerbauer (Haider war schon Landeshauptmann in Kärnten) gehörig ins Keuchen kam.
Bei den Wahlen war es dann umgekehrt: Die FPÖ skelettierte die ÖVP geradezu – 9,2 Prozentpunkte minus, das hatte es bis dahin noch nie gegeben.

1994
Die SPÖ kam 1994 an die Reihe: Mit einem „Gegen die da oben“-Wahlkampf und diversen Taferln beim TV-Duell mit Vranitzky, auf denen die Bezüge einiger Arbeiterkammer-Funktionäre verzeichnet waren, nahm Haider den Sozialdemokraten jeden zehnten Wähler von 1990 ab.
Auch die ÖVP verlor wieder schwer und machte Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel zum Parteichef. Er sah seine Chance in der Attacke: Schon nach einem Jahr brach er Neuwahlen vom Zaun. Schüssel wolle sich mit Haiders Hilfe zum Kanzler machen, vermutete die SPÖ.

Haider warb mit dem Slogan „Er hat euch nicht belogen – einfach ehrlich, einfach Jörg“. Ich begleitete den FPÖ-Obmann zu dutzenden Veranstaltungen und notierte die von ihm zum Besten gegebenen Beispiele von Privilegienrittertum, um sie zu überprüfen. In einem Fall ging es um einen 46-jährigen Krankenkassen-Direktor aus Salzburg, der in Frühpension gegangen war und nun nach Angaben Haiders wilden Extremsportarten fröne, „damit er einmal Ermüdungserscheinungen hat, weil er ja vorher beim Arbeiten sowieso keine Anstrengung erbringen hat müssen“. Sein Publikum johlte.

Der Frühpensionist war rasch gefunden, er lag im Wiener AKH. Die Diagnose: Leukämie, Herzrhythmusstörungen und schwere Depressionen. Die Gebietskrankenkassa hatte Haider sogar schon alle Unterlagen zu diesem Fall geschickt. Dennoch ließ der FPÖ-Obmann, ein rücksichtsloser Charakter, bis zum Wahlkampfende nicht von dem Todkranken ab. Aber erstmals verlor er nun Stimmen (-0,6 %), Wahlsieger war Vranitzkys SPÖ, Schüssels Angriff war gescheitert.

1999
Die nächsten Wahlen, jene vom 3. Oktober 1999, wurden für die ÖVP zum Debakel: Es langte nur für Platz drei. „Sieger Haider. Schüssel Kanzler?“, titelte profil in richtiger Einschätzung der Pläne des ÖVP-Obmanns, obwohl Schüssel für diesen Fall den Gang in die Opposition angekündigt hatte. Tatsächlich verweigerte er wochenlang jedes Koalitionsgespräch.

Am 5. Dezember war ich gemeinsam mit meinem „Krone“-Kollegen Dieter Kindermann in der ORF-„Pressestunde“, um Schüssel zum Stand der Dinge zu befragen. Zu unserer Überraschung erklärte sich der ÖVP-Chef plötzlich bereit, mit der SPÖ zu verhandeln. Später wurde bekannt, dass es am 16. November eine Abendessen zwischen Schüssel, Erwin Pröll und Jörg Haider gegeben hatte, bei dem der ÖVP/FPÖ-Pakt besiegelt worden war. Schüssel plante nur Scheinverhandlungen mit den Sozialdemokraten.

Zwei Tage nach der „Pressestunde“ flog ich mit Jörg Haider nach Brüssel. Während die Maschine auf Landeerlaubnis wartete, meinte Haider auf meine Frage nach den Koalitionsverhandlungen, Schüssel werde sicher mit der FPÖ koalieren, weil er keine andere Wahl habe: „Noch einmal als Zweiter in einer Koalition mit der SPÖ – da ist er hin, und das weiß er auch.“

Am 3. Februar 2000, 13 Uhr, war die Unterzeichnung des Koalitionspakts zwischen ÖVP und FPÖ im Redoutensaal der Hofburg angesetzt. Journalisten und Fotografen durften zusehen. In den Straßen tobten Demonstrationen gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ. Ich sollte der britischen Radiostation BBC World Service um 12.50 Uhr per Telefon ein Live-Interview zur politischen Lage in Österreich geben und wartete vor dem Redoutensaal auf den Anruf von BBC. Er traf um einige Minuten verspätet ein, wodurch die unangenehme Lage entstand, dass ich gerade – auf Englisch – wilde Kritik gegen die neue Regierung losließ, als plötzlich Wolfgang Schüssel, Jörg Haider und Susanne Riess auf mich zukamen. Die Politiker schüttelten mir freundlich die Hand, während ich weiter gegen sie loszog. Es war schließlich eine Livesendung.

2002 wiederholte sich 1986: Haider und der rechte Parteiflügel putschten gegen die eigene Regierungsfraktion. Jetzt strebte Schüssel wie damals Vranitzky Neuwahlen an und ging wie dieser aus ihnen als Sieger hervor. Zum ersten Mal seit 36 Jahren war die ÖVP wieder Nummer eins.
Siegestrunken meinten VP-Granden, sie hofften nur, dass ihnen Alfred Gusenbauer nicht als SPÖ-Spitzenkandidat abhanden komme, der sei ein Jausengegner. Als im März 2006, ein halbes Jahr vor der Wahl, der Bawag-Skandal platzte und bekannt wurde, dass der ÖGB seinen Streikfonds verspekuliert hatte, schien es, als müsse sich die ÖVP den Sieg bloß noch abholen.

Aber sie hatte die Wendestimmung übersehen. Am Donnerstag vor der Wahl rief mich der Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer an: „Ich habe aus Eigeninteresse noch eine Umfrage gemacht und kann die Zahlen selbst nicht glauben. Was hältst du davon?“ Gusenbauers SPÖ stand nach diesen Daten vor einem Wahlsieg. Als ich am Sonntag gegen 15 Uhr über den Ballhausplatz ging, rollten schwarze Limousinen ins Kanzleramt. Schüssel hatte eine Krisensitzung einberufen. Seine Regierung war am Ende.

2008
Wilhelm Molterer war nun Vizekanzler, aber hinter den Kulissen zog nach wie vor Schüssel die Fäden: Gusenbauer durfte keinen Erfolg haben. Der rote Kanzler machte es seinen Gegnern leicht. Anfang 2008 fielen die Umfragewerte der SPÖ von 36 auf 30 Prozent. Im März erhielt ich einen Anruf: Ein Informant bestellte mich für 22 Uhr in ein kleines Café in Gürtelnähe. Was er zu bieten hatte, wurde zur profil-Titelgeschichte jener Woche: Eine Gruppe in der ÖVP um Wolfgang Schüssel und Wilhelm Molterer hatte insgeheim Vorbereitungen für eine Neuwahl am 1. Juni getroffen. Alle Inseratenbuchungen waren vorgeplant, die Plakatfotos mit Molterer waren bereits aufgenommen. Nicht einmal die gesamte Parteispitze war eingebunden.

Nach der profil-Veröffentlichung stellte die ÖVP die Wahlvorbereitungen wieder ein. In der SPÖ brach dennoch Panik aus. Am 26. Juni arbeitete ich zu Hause an einem Interview mit Natascha Kampusch, als ich in den Radionachrichten eine Meldung hörte, die ich nicht glauben mochte. Demnach hätten Alfred Gusenbauer und der als Parteiobmann designierte Werner Faymann eine Art Unterwerfungsbrief an den in schriller Anti-EU-Hysterie trompetenden „Krone“-Herausgeber Hans Dichand geschrieben. „Jetzt reicht’s“, befand ÖVP-Obmann Molterer. „Auch Tiere würden Faymann wählen“, schrieb die „Krone“.

Am Wahltag, dem 28. September 2008, meldete sich St. Ilgen vier Minuten nach elf