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Das Einwanderungsland Österreich: Jenseits von Gut und Böse

Land der Berge und Migranten. Das vergangene Jahr stellte die rot-weiß-rote Multikulti-Realität ins Rampenlicht - in all ihrer Ambivalenz. Sechs komplizierte Geschichten zwischen Paketzentrum, Terror und Heustadl.

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Dieser Artikel erschien im profil Nr. 52 / 2020 vom 20.12.2020.

Der Laden Österreich oder Paketzusteller statt Sozialhilfeempfänger

Wie kommen 7000 somalische Flüchtlinge in Österreich durch die Corona-Wirtschaftskrise? Natürlich dank Mindestsicherung! So ungefähr würde wohl, nach Jahren erhitzter Debatten über Ausländer-Sozialhilfe, das naheliegende Vorurteil lauten. Aber die Corona-Pandemie erweiterte auch unsere Wahrnehmung somalischer Lebenswelten. Flüchtlinge, die im Post-Verteilzentrum Hagenbrunn in Niederösterreich Pakete schupften, wurden plötzlich zu beklatschten Systemerhaltern - zu Menschen, die den Laden Österreich am Laufen halten.

Im Unterschied zu Pflegerinnen oder Supermarktkassiererinnen waren die somalischen Postfüchse zunächst allerdings weniger sichtbar. Erst die Corona-Cluster-Fahndung lenkte den Blick auf sie. Bei der Suche nach Virusherden stießen die Experten der Agentur für Ernährungssicherung und Gesundheit (Ages) immer wieder auch auf Cluster innerhalb ethnischer Gruppen. Auf Communities, die in ihren Herkunftssprachen feierten, beteten oder in den Pausenräumen plauderten. Je prekärer der Job, je lebendiger der kirchliche Ritus, je größer die Familie und je enger die Wohnverhältnisse, desto leichter konnte sich das Virus weiterverbreiten.

Der Post-Cluster in Hagenbrunn, den die Behörden im Mai entdeckten, betraf freilich nur zur Hälfte die dort beschäftigten Leiharbeiter. Die anderen Infizierten waren fix angestellt und aus der Gegend. Das Virus könnte durchaus auch von einem Korneuburger Kollegen auf einen Somali übergesprungen sein, der es in seiner Community weitergab. Corona kennt keine Staatsbürgerschaft.

Vor Weihnachten herrscht nun wieder Hochbetrieb im Postzentrum. Und eine multikulturelle Schar an Arbeitern schiebt am Fließband Überstunden, um das System Packerl unterm Baum zu erhalten.

Kirchen, Cluster, Heustadl oder Warum das Virus zwischen rechts und links nicht unterscheiden kann

Medien berichteten auf Basis der Ages-Daten unverblümt über "Somalia-Cluster", Virus-Ausbrüche bei türkischen Hochzeiten, in jüdischen Schulen oder serbisch-orthodoxen Kirchen. Politisch ziemlich unkorrekt, führte diese coronabedingte Offenheit zu neuen Einblicken in die multikulturelle Landschaft Österreichs - zum Beispiel auch auf die boomende Freikirchen-Szene am Land.

So verbreitete sich das Virus Anfang Juli innerhalb einer Kirchengemeinschaft rumänischer Roma und Sinti, in Großfamilien mit bis zu zehn Kindern. Eine Geburtstagsfeier war der Ausgangspunkt. Der Cluster mit über 200 Infizierten führte zu Schulschließungen in halb Oberösterreich. Die rumänische Kirchengemeinschaft hatte sich ihrerseits bei der afrikanischen Freikirche "Pfingstgemeinde Österreich" eingemietet. Diese wurde fälschlicherweise für den Covid-19-Ausbruch verantwortlich gemacht. Die Kombination "Ausländer und Corona" beflügelte vorhandene Ressentiments. Dem afrikanischen Priester der Pfingstgemeinde wurden rassistische Sprüche auf die Haustür geschmiert. Dem Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp wiederum genügte im Frühjahr ein Cluster in einem Wiener Asylheim, um auf allen Kanälen zu tönen: Asylanten-Virus!

Seit Beginn der Pandemie entzieht sich das Virus aber nicht nur politischer Korrektheit von links, sondern auch einer Instrumentalisierung von rechts. Covid-19 nimmt bei seiner Verbreitung keine Rücksicht auf Rasse, Hautfarbe, Glaube, Religion oder Status. Der erste Corona-Hotspot des Landes lag von den urbanen Migrantenzonen weit entfernt. Vom Tiroler Nobel-Skiort Ischgl exportierte das gut situierte Bürgertum die Krankheit in alle Landesteile. Im Sommer war das Virus auf den sommerlichen Reiserouten unterwegs; ab Herbst tanzte es auf ländlichen Festln zwischen Heustadl und Garage.

"Schlepper"-Unwesen oder Welche Routen das Virus wirklich nahm

So richtig zu blinken begann die Corona-Ampel in den urbanen Zuwanderervierteln erst im Sommer. Die Gastarbeiter und ihre Nachfahren hatten sich in Bewegung gesetzt , um "runter" in die alte Heimat zu fahren - und kehrten nicht selten infiziert vom neuen Corona-Hotspot Balkan zurück.

Das Infektionsgeschehen in Österreich ging Ende Juli tatsächlich signifikant auf Reiserückkehrer mit Wurzeln am Westbalkan oder in der Türkei zurück. So stellte es die Ages gegenüber profil dar - und erntete keinen Shitstorm. Anders erging es Bundeskanzler Sebastian Kurz, der Anfang Dezember meinte, Menschen hätten das Virus nach einem Sommer in ihren Heimatländern wieder ins Land "hereingeschleppt" - über die "Balkanroute", wie manche Medien ergänzten.

Bei einem Politiker wie Kurz, dessen Kanzlerschaft wesentlich auf dem Kampf gegen Schlepper und das Schließen der Balkan-Flüchtlingsroute aufbaut, roch die vermeintlich nüchterne Analyse zu sehr nach blame game. Dass er andere, urösterreichische Virus-Wegmarken aussparte, von Ischgl bis zum Heustadl-Fest, verstärkte den Eindruck zusätzlich. Warum Österreich die virale Balkanroute nicht früher schloss - für Migranten und andere Urlauber - ließ er offen.

Helden der Nacht oder Wenn sich Welten widersprechen

"Ich trage Ihren Namen mit großem Stolz. Mein Staatspräsident, ich würde gerne, wenn ich in die Türkei komme, wenn Allah das will und Sie das gestatten, zu Ihnen kommen und Ihre Hand küssen." Der 21-jährige Austro-Türke Recep Tayyip Gültekin telefoniert mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Die Namensgleichheit ist kein Zufall, sein Vater hat den Sohn vor 21 Jahren nach seinem großen Vorbild benannt. Erdoğan hat Gültekin junior und dessen Freund Mikail Özen, 25, angerufen, um sie für ihre Heldentaten in der Wiener Terrornacht am 2. November zu ehren. Die beiden Kampfsportler hatten einen verletzten Polizisten vor dem Attentäter in Sicherheit gebracht. Gültekin selbst wurde dabei angeschossen. Die Heldengeschichte ging um die Welt. "Wir lieben Österreich, wir stehen zu Österreich. Ich würde heute das Gleiche wieder tun", betonte Özen in Interviews.

Hier könnte eine wunderbare Integrations-Geschichte enden. Wäre da nicht das Kapitel im Anhang, das erklären könnte, warum nur Erdoğan anrief und nicht auch der eigentliche Präsident von Gültekin und Özen, Alexander Van der Bellen. Oder ihr Bundeskanzler, Sebastian Kurz. In diesem Epilog zur Heldengeschichte geht es um zwei junge Austrotürken, die auf Social Media ein befremdliches Bild abgaben; die es völlig normal fanden, nach dem Kampfsport mit dem Gruß der Grauen Wölfe zu posen, einem Handzeichen türkischer Rechtsextremer, das in Österreich seit 2019 verboten ist; die, ihren Postings nach zu schließen, in zwei Welten leben, die immer weniger vereinbar scheinen: In der Türkei ihres hoch verehrten Präsidenten Erdoğan, der Islam und Politik immer stärker vermischt, und in ihrer Heimat Österreich, in der Bundeskanzler Kurz den politischen Islam unter Strafe stellen will.

Die kritisierten Bilder haben die beiden relativiert und gelöscht, ein besonders schockierendes Posting hat Gültekin zur Jugendsünde erklärt. Er und sein Freund Özen sind und bleiben Helden. Vom Wiener Polizeigeneral wurden Sie zu Recht geehrt. Doch ihre ideologische Zerrissenheit, die sie mit nicht wenigen jungen Türken verbindet, hinterlässt ein Fragezeichen: Wachsen wir im Einwanderungsland Österreich wirklich zusammen oder entfremden wir uns vielmehr? Vielleicht sollten Van der Bellen, Kurz oder Integrationsministerin Susanne Raab Özen und Gültekin doch noch empfangen und diese Debatte offen führen. Dabei könnten sie auch die Trennlinie zwischen politischem und konventionellem Islam noch einmal schärfer ziehen.

Wie es sich anfühlt, wenn diese Grenze von Politikern verwischt wird, hat der dritte Held der Terrornacht, Osama Joda, 23, selbst sehr direkt erfahren. Joda hatte am 2. November, nur wenige Minuten nach den ersten Schüssen, einen schwer verletzten Polizisten zunächst hinter einer Betonbank aus der Schusslinie gebracht, die Blutung unterdrückt, die Rettung gerufen und ihn zusammen mit Özen und Gültekin zu den Sanitätern geschleppt.

Jodas Vorgeschichte: Seine Familie stammt aus Palästina. Ihr war im Sommer 2019 ein Grundstückserwerb in der niederösterreichischen Gemeinde Weikendorf verwehrt worden, weil "die Kulturkreise der islamischen und westlichen Welt" schlecht vereinbar wären, wie die lokalen Behörden befanden. Erst der Landesverwaltungsgerichtshof bog die Causa am Ende wieder gerade. Die Jodas haben das Haus mittlerweile erstanden. Der Held von Wien darf in Niederösterreich leben.

Opfer und Täter oder Wenn Parallelgesellschaften Tür an Tür wohnen

Rund 40 Kilometer von Weikendorf entfernt liegt Korneuburg, ein weiterer Ort mit Bezug zur Terrornacht. "Was uns sprachlos macht, ist die Tatsache, dass sowohl der Täter als auch das Opfer albanischstämmig und aus Nordmazedonien sind. Ein Zufall, der nicht in Worte zu fassen ist." So kommentierte ein Vertreter der albanischen Community das Attentat, das den 20-jährigen Nedzip V. aus Korneuburg das Leben kostete.

Kein Zufall, sondern schlicht Ausdruck des multikulturellen Österreichs war die Tatsache, dass drei von vier Opfern des 2. November einen Auslandsbezug aufwiesen. Neben Nedzip V. waren das ein 39-jähriger Österreicher mit chinesischen Wurzeln und eine 24-jährige Studentin aus Deutschland.

Der Migrationshintergrund von Nedzip V. war wohl das Letzte, woran die Korneuburger beim Lichtermeer vor ihrem Rathaus dachten. Zu integriert und beliebt war der als "lieb und lustig" beschriebene junge Mann, der beim FC Bisamberg kickte und den Grundwehrdienst in der Ortskaserne abgeleistet hatte.

Völlig konträr die Integrationsgeschichte des Täters. In der gutbürgerlichen Stadt Mödling bei Wien geboren und aufgewachsen, brach er bereits als HTL-Schüler in Wien-Ottakring mit dem Staat Österreich. 2018 wollte er sich erstmals dem sogenannten Islamischen Staat in Syrien anschließen und landete nach missglückter Ausreise in Haft. Nach weiteren Gelegenheiten, sich zu radikalisieren, musste er nicht lange suchen. Eine von mehreren einschlägig amtsbekannten Moscheen fand er unweit seiner Schule, gelegen zwischen dem Amtssitz des SPÖ-Bezirksvorstehers und dem Büro der Grünen Ottakring. Parallelwelten existieren in Österreich Tür an Tür - auch eine Erkenntnis aus dem Jahr 2020.

"Vergesst die Eltern!"oder Warum der Staat junge Sittenwächter auffangen soll

"Ob die Jugendlichen, die ich kennengelernt habe, Dschihadisten werden, bezweifle ich stark, aber das ist auch kein Maßstab. Sie müssen sich ändern. Schnell und deutlich", schrieb die Journalistin Melisa Erkurt, 29, im Jahr 2016 in einer Covergeschichte für das Migrantenmagazin "biber" über die "Generation haram". Der Attentäter vom 2. November ging damals gerade in die HTL in Wien-Ottakring. "Generation haram" (arabisch: verboten) handelte von einer Verbotskultur, mit der muslimische Burschen an sogenannten "Brennpunktschulen" ihre Mitschülerinnen mobben; etwa indem sie ihnen erklären, warum Ausschnitte zu provokant oder das Ziehen an der Shisha zu erregend sei. Erkurt beschrieb, wie diese Burschen gleichaltrige Mädchen in einen Jungfrauen-Kerker einsperren wollen, während sie selbst sich Sex vor der Ehe natürlich erlauben. Erkurt schrieb über Schulen, an denen die Zahl der Nichtschwimmerinnen enorm angestiegen sei, weil Mädchen Schwimmbäder meiden würden-aus Angst, von Mitschülern fotografiert und als "haram" geoutet zu werden.

Als Kind einer bosnischen Flüchtlingsfamilie konnte Erkurt diese Lebenswelten authentischer beschreiben als Journalisten ohne Migrationshintergrund. Die Story schlug ein. 2020 landete Erkurt mit ihrem ersten Buch einen Bestseller. Rund um ihre eigene Integrationsgeschichte rechnet sie in "Generation haram" mit dem heimischen Bildungssystem ab, das - so ihre These - Migranten systematisch benachteilige. Das Buch trägt denselben Titel wie die "biber"-Story. Das verquere Weltbild muslimischer Schüler wird im Buch jedoch nur gestreift. Das Buch sollte "den Verlierern" eine Stimme geben-und dazu zählt Erkurt auch die pubertierenden Haram-Wächter, die ihren Loser-Status durch pubertäre Prahlerei kaschierten.

Erkurts Ausweg aus dem Bildungsnotstand: Heimische Schulen sollen sich stärker der Realität eines Einwanderungslandes anpassen, mehr Lehrer mit Migrationshintergrund beschäftigen, mehr Wissen über die Lebenswelten der Migra-Kids sammeln, mehr Sozialarbeiter einstellen und mehr Deutschunterricht anbieten, der auch die Parkjugend erreicht. Weil der Bildungserfolg zu sehr von der Unterstützung der Eltern abhänge, fordert Erkurt eine radikale Lösung: eine Ganztagsschule für alle. "Vergesst die Eltern!", postuliert sie. "Generation haram" (das Buch) wurde in linken und liberalen Kreisen hymnisch gefeiert. Freilich könnte Erkurts Befund auch Rechtskonservativen als Beleg für ihre Zuwanderungsskepsis dienen. Denn wenn der Staat und seine Schulen die Hauptverantwortung dafür tragen, dass es die Kinder einmal besser haben, und nicht mehr der individuelle Aufstiegswillen der Kinder und Eltern - wie viel Zuwanderung aus bildungsfernen Schichten geht sich dann noch aus? Und, mit Blick auf Erkurts Reportage aus dem Jahr 2016: Werden nicht auch die empathischsten Brennpunkt-Lehrer beim Versuch scheitern, die Kinder in die Gesellschaft reinzuholen, wenn diese als haram verachtet wird?

Erkurt selbst gehört zu einer Generation von Muslimen, die von Eltern oder Mitschülern kaum auf Distanz zur westlichen Gesellschaft gehalten wurde. Sie besuchte ein niederösterreichisches Gymnasium, an dem Migrantinnen in der Minderzahl waren - im Unterschied zu den Wiener Brennpunktschulen, die sie später als Lehrerin und Journalistin kennenlernte. Und sie wuchs als Bosnierin mit einem liberalen Islam auf, der ohne lähmende Verbotskultur auskam. Mit den Flüchtlingen aus Tschetschenien, Afghanistan, Somalia oder Syrien wurde der Islam in Österreich dogmatischer. Dazu kommt der Einfluss des islamistisch-nationalistischen Präsidenten Erdoğan auf Austro-Türken. Welche neuen Hürden sich damit vor migrantischen Jugendlichen aufbauen, würde man beizeiten gern lesen - gerade auch von Erkurt.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.