Stalin- und Putinsouvenirs: In Umfragen galt Stalin als „wichtigste Figur des 20. Jahrhunderts“.
History

Der lange Arm Stalins und die Verfolgung der russischen Zivilgesellschaft

Die Geschichte der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial", gegründet zur Zeit der Sowjetunion, verfolgt bis heute.

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Eine innere Dringlichkeit verlangt von Irina Scherbakowa, Publizistin, Historikerin und Gründungsmitglied der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial", alle Augenblicke lang ihr Smartphone zu checken, wenngleich sie sich vor jeder neuen Nachricht fürchtet. Good News aus Moskau sind nicht zu erwarten.

Eben erst haben wir in ihrem Wiener Hotelzimmer den profil-history-podcast zur Situation in Russland beendet, da leuchtet das Display auf, und ihre Miene verschattet sich. Die Duma, das russische Parlament, hat ein neues, noch schärferes Agentengesetz beschlossen. Wer jemals für eine NGO mit Kontakten ins Ausland gearbeitet hat, kann ab sofort als Agent in ausländischen Diensten angeklagt werden, auch Scherbakowas Sekretärin, die bis zum Verbot im Dezember 2021 bei "Memorial" angestellt war. Wovon wird sie nun leben? Eine neue Arbeitsstelle ist unter diesen Bedingungen ausgeschlossen.

Scherbakowa hatte in den ersten Tagen des russischen Überfalls auf die Ukraine der ORF-Korrespondentin in Moskau, Carola Schneider, ein aufsehenerregendes Interview gegeben. Den Krieg nannte sie einen Krieg und verurteilte ihn scharf. Sie saß noch im TV-Studio, als russische Sicherheitskräfte die Büroräume von "Memorial" stürmten und durchsuchten. Wenig später flüchtete Scherbakowa nach Israel. Sie hatte nicht lang überlegt, zwei große Koffer gepackt und die Wohnung abgesperrt. Ob sie sie jemals wieder sehen wird?

Die Vorstellung, wieder zum Schweigen verdammt zu sein, war für sie nicht lebbar gewesen. Zu viele Jahre lang schon hatte sie vieles heimlich tun müssen.

Die Menschenorganisation "Memorial" war 1989, in der Aufbruchszeit unter Staatspräsident Michail Gorbatschow, gegründet worden. "Memorial" knüpfte an die 1968er-Bewegung an, die es unter Künstlern, Intellektuellen und Oppositionellen auch in Russland gab. Für Dichter wie Alexander Ginzburg oder Joseph Brodsky, dem späteren Literaturnobelpreisträger, die wegen "antisowjetischer Agitation und Propaganda" verfolgt und angeklagt waren, wurden Petitionen verfasst und demonstriert. Eine "Chronik der laufenden Ereignisse" mit all den Schreckensdingen, die geschahen, wurde bis Anfang der 1980er-Jahre, als alles noch schlimmer wurde, fortgeführt.

"Memorial" hatte sich auch der Aufgabe verschrieben, die Gesellschaft von ihrer "Amnesie zu heilen", ihr "das historische Gedächtnis zurückzugeben". Man dokumentierte die Opfer des Stalin-Terrors, Gulag-Häftlinge, Verschwundene, Abgeurteilte, Deportierte. "Memorial" suchte in Archiven nach Hinweisen von Erschießungen und dann nach den Massengräbern, die sich oft auf Brachflächen, in Gärten und privaten Grundstücken befanden. Österreichische Historiker waren unter den Ersten, die die Archivrevolution nützten. Auch sozialdemokratische Schutzbündler, die 1934 vor dem Dollfuß-Regime nach Russland geflohen waren, und begeisterte Kommunisten waren von Stalins Kommissaren umgebracht worden oder starben im Gulag. Nun kamen die wahren Geschichten ans Licht. In der KPÖ hatte man über die Verbrechen des Stalin-Regimes lange geschwiegen.

Vor der KGB-Zentrale in Moskau, der Lubljanka, wurde ein Gedenkstein aus einem Gulag aufgestellt, aber das war es auch schon. Juristisch wurde der Stalinismus nie verurteilt.

Nach Gorbatschow wurden die Zeiten härter, die Schlangen vor den Läden mit Brot länger, zukünftige Oligarchen rissen sich Staatseigentum unter den Nagel. "Memorial" widmete sich auch den Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart. Ihre Aktivisten gingen Gerüchten über Massaker im russischen Tschetschenienkrieg nach, fuhren in Dörfer und Städte, interviewten Betroffene, dokumentierten Kriegsverbrechen. Auf beiden Seiten.

Im Schatten des zweiten Tschetschenienkrieges, der 1999 begann, kam Wladimir Putin an die Macht. Putin hatte den Krieg, der nicht Krieg genannt wurde, sondern "Anti-Terror-Aktion", mit größter Brutalität führen lassen. In Moskau hatte es zuvor Sprengstoffanschläge auf Wohnblöcke mit mehr als 100 Toten gegeben. Einige westliche Journalisten fanden Indizien, dass Putins Geheimdienst die Anschläge selbst inszeniert hätte; bewiesen ist das nicht. Der Krieg verhalf Putin 2000 zum Wahlsieg. Nach dem Urteil der Putin-Biografin Masha Gessen habe der zweite Tschetschenienkrieg bestimmt, "wer in der Russischen Föderation an der Spitze des Staates, der Armee und vieler Regionen steht".Er habe die Umrisse der Gesellschaft und die russischen Massenmedien geprägt.

Das schleichende Gift der Gewalt, die Gewöhnung daran und der damit einhergehende Patriotismus halten Putin bis heute an der Spitze.

In den 2000er-Jahren wurde offenbar, dass aus dem "Großen Vaterländischen Krieg", dem Sieg der Roten Armee über den Hitler-Faschismus, eine Geschichtsideologie geworden war. Nicht mehr über den Preis des Krieges wurde gesprochen, sondern über den Opfertod, der in der russischen Seele gründe. Oder in den Worten Putins aus dem Jahr 2014: "Für sein Vaterland zu sterben-darin liegen die tiefen Wurzeln unseres Patriotismus."

Das nationale Fernsehen kam unter staatliche Kontrolle, Stalin-Plakate, Bilder und Büsten tauchten wieder auf, die sowjetische Hymne wurde wieder eingeführt-das Pathos der Partei im Text durch die Kirche ersetzt. In Umfragen galt Stalin als "wichtigste Figur des 20. Jahrhunderts".

Im selben Jahrzehnt erarbeitete sich Putin im Westen paradoxerweise (oder war das nicht vielmehr logisch?)den Ruf eines Garanten für Stabilität. Österreichische Historiker erforschten mithilfe Moskauer Archive die Untaten der Roten Armee nach der Befreiung im Jahre 1945: 270.000 Vergewaltigungen, Plünderungen, Verschleppungen, Todesurteile. "Stalins Soldaten in Österreich. 1945-1955" von Barbara Stelzl-Marx erschien 2012.

Russland erschien so frei. Doch in Moskau war das Thema immer noch tabu. Dokumente, die dem Ansehen der Roten Armee schaden könnten, blieben unter Verschluss. Und der Zivilgesellschaft wurden Daumenschrauben angelegt. Der Westen schwieg.

2009 wurde in Moskau eine Kommission eingesetzt, die Geschichtsbilder "zum Schaden der Interessen Russlands" überwachte und gegensteuerte.

2012 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Geschichtsfälschung in Russland unter Strafe stellte. Davon war auch "Memorial" betroffen.

2014 wurde die "Rehabilitierung des Nazismus" verboten, was auf den ersten Blick vernünftig klingt. In der Praxis kriminalisierte das neue Gesetz die Verbreitung von "wissentlich falscher Information über die Tätigkeiten der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges",wobei staatliche Stellen entscheiden, was als richtig und falsch gilt.

Im Frühjahr 2020 wurde ein neuer Passus in der russischen Verfassung verankert: "Die Russische Föderation ehrt die Erinnerung an die Verteidiger des Vaterlandes, verteidigt die historische Wahrheit. Es ist nicht erlaubt, die Bedeutung der Heldentaten des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes zu schmälern." "Memorial" hat lange durchgehalten. Seit zehn Jahren steht sie, wie alle anderen NGOs, die mit ausländischen Partnern kooperieren, unter "Agentenverdacht", ein Gesetz, das wie gesagt jetzt noch schärfer gefasst wurde. "Memorial"-Unterstützer gehen trotz amtlichen Verbots vom Dezember 2021 auch in diesen Tagen auf die Straße. Oft sind es Aktionen von wenigen Minuten. Sie haben ihre verbotene Organisation unter einem neuen Namen wieder gegründet, nicht offiziell, aber als Zeichen für den Widerstand. Die Älteren von ihnen wissen, dass Protest wie in den schlimmsten Stalin-Jahren nichts ändert, aber es wichtig ist, dass es ihn einfach gibt. Für die eigene Würde.

Scherbakowa hat bei ihrem Wiener Auftritt im Kreisky-Forum vergangene Woche den bedrückenden Tagebuch-Eintrag einer Moskauer Freundin vorgelesen: "Ich versuche, dieses seltsame Gefühl zu verstehen: warum man leben kann und dabei doch nicht lebt. Die genaueste Beschreibung ist: eine Geisel zu sein. Niemand verbietet mir, zu essen, zu duschen, Verwandte zu sehen, aber du bist eine Geisel des bösen Willens eines anderen. Viele um mich herum sind still geworden und sagen, alles ist nicht so eindeutig. Einzelne stürzen sich in den Protest, und schon liegt ein Körper am Boden."

Es ist alles sehr eindeutig, sagt Scherbakowa.

 

Christa   Zöchling

Christa Zöchling

war bis 2023 in der profil-Innenpolitik