Analyse

Die Grünen und die ÖVP: Mitgefangen, mitgehangen

Warum müssen sich die Grünen jedes Mal rechtfertigen, wenn bei der ÖVP etwas schiefläuft? Über die schwierige Rolle einer Partei, die den Heiligenschein zum Programm machte.

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Werner Kogler kann sehr viel reden, ohne präzise etwas zu sagen. Das ist für einen Politiker grundsätzlich eine praktische Fähigkeit. Der Grünen-Chef muss sein Talent zum Geschwurbel derzeit aber besonders oft bemühen: "Die Justiz hat die Aufgabe, allen Vorwürfen nachzugehen, Belastendes zu suchen, Entlastendes zu suchen. Das tut sie, aber mir ist wichtig, wenn Sie die Rolle der Grünen in der Bundesregierung ansprechen, dass wir die Garanten für Rechtsstaatlichkeit sind, und dabei wird es bleiben", erklärte Kogler etwa im ORF-Radio. Bei einem Termin in der Steiermark wurde er weitere kryptische Botschaften los: "Der Bundeskanzler soll Stellung nehmen dürfen und wird das vielleicht auch müssen." Wichtig sei jetzt, dass die Justiz ungehindert arbeiten dürfe. "Und dazu tragen auch wir bei."

Wolfgang Mückstein, der neue Gesundheitsminister, hat ebenfalls schnell gelernt, dass Sprache nicht unbedingt der Weiterleitung von Informationen dienen muss. "Ich glaube, es ist nicht der Zeitpunkt, jetzt über irgendwelche Dinge zu spekulieren. Das gehört angeschaut, es gehört eine unabhängige Ermittlung gemacht. Ich habe Vertrauen, dass unsere Justizministerin dafür Sorge tragen wird, dass das stattfindet, und dann werden wir schauen, was herauskommt", erklärte Mückstein jüngst.

Erklärungsnotstand

So reden Politiker meistens dann, wenn sie selbst oder die eigenen Parteifreunde bei einem gröberen Schnitzer erwischt wurden. Die Grünen brechen mit dieser Regel. Herumgedruckst wird stets dann am heftigsten, wenn der Koalitionspartner wieder einmal in der Bredouille steckt. Ob bei Finanzminister Gernot Blümel eine Hausdurchsuchung stattfindet oder peinliche Chats von ÖBAG-Boss Thomas Schmid bekannt werden: Die Grünen haben Erklärungsnotstand. Aktueller Anlass des Herumlavierens ist die drohende Anklage gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz wegen Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss. Was ist, wenn Kurz verurteilt werden sollte?, wollte die Tageszeitung "Der Standard" von Werner Kogler wissen. Dessen Antwort: "Ich will zum jetzigen Zeitpunkt nicht die eine Schlagzeile produzieren. Natürlich gibt es Grenzen der Amtsfähigkeit und des politischen Vertrauens der Bevölkerung. Das wird schrittweise zu bewerten sein." Irgendwie gut, dass Nachrichten heutzutage vermehrt online konsumiert werden und weniger auf Papier. Für diese Art von Text sollten wirklich nicht zu viele Bäume sterben müssen.

Schadenfreude keine Option

Werner Kogler weiß natürlich, dass es auch einfacher ginge. Auf Fragen zu den Kalamitäten bei der ÖVP könnte er salopp antworten, dass eine drohende Verurteilung des Kanzlers wohl zuallererst ein Problem der Türkisen wäre, nicht der Grünen. In früheren Regierungen wäre das genau so gelaufen, meint der Politologe Fritz Plasser. "Zur Zeit der Großen Koalitionen hätte die SPÖ genussvoll zugesehen und sich über die Schwierigkeiten der ÖVP gefreut." Für die Grünen sei Schadenfreude indes keine Option, meint der Experte. "Politische Sauberkeit und der Kampf gegen Korruption gehören zu den zentralen Werten der Partei. Da ist der Druck von der Basis sehr groß, wie sich in den sozialen Medien beobachten lässt."
 

Der Zwang zur Rechtfertigung kommt allerdings nicht bloß aus den eigenen Reihen. Auch in vielen Medien wird mit jeder Enthüllung über die ÖVP die Kritik am kleinen Koalitionspartner lauter. Darf man als aufrechter Grüner mit so einer Partei in der Regierung bleiben? Müssten die Grünen nicht längst die Konsequenzen ziehen und der ÖVP die Gefolgschaft verweigern? Für Fritz Plasser ergibt das ein klassisches Dilemma: "Jetzt Haltung zu zeigen, würde wohl bedeuten, dass die Grünen die Regierung verlassen müssten", sagt er. "In der Folge würde ihnen wahrscheinlich vorgeworfen, dass sie in einer schwierigen Situation für das Land Neuwahlen verursacht haben."

Vielleicht sollten Grün-Sympathisanten, die jetzt Konsequenzen fordern, ihr Anliegen in Ruhe zu Ende denken: Scheitert diese Regierung, ist die Gefahr, die nächsten Jahre in der Opposition zu verbringen, für die Grünen erheblich größer als für die ÖVP. Werner Kogler wäre somit als Vizekanzler zurückgetreten, weil dem ÖVP-Kanzler ein Gerichtsverfahren drohte. So weit reicht das Konzept der politischen Verantwortung für gewöhnlich nicht.

"Wen würde der Anstand wählen?"

Die Grünen werden zweifellos strenger beurteilt als jede andere Partei. Das ist unfair - aber es hat Gründe: Seit es die Ökopartei gibt, gehört eine gewisse moralische Überhöhung fix zum Repertoire. Wer grün wählt, kann sich als ein besserer Mensch fühlen oder zumindest vom Schlechten auf der Welt distanzieren. "Wen würde der Anstand wählen?", stand etwa auf den Wahlplakaten der Grünen im Nationalratswahlkampf 2019. Grüne Mandatare waren in der Vergangenheit stets gnadenlos, wenn es um echte oder vermeintliche Verfehlungen in anderen Parteien ging.

Von der Oppositionsbank aus war das keine allzu gefährliche Strategie. In einer Regierung stößt der Hang zur Gesinnungsethik schnell an seine politischen Grenzen - und zwar auch dann, wenn der Koalitionspartner nicht fortwährend die Justiz am Hals hat. Dass der Machterhalt einen gewissen Pragmatismus erfordert, zeigen die Regierungsbeteiligungen der Ökopartei in den Bundesländern. Von Ingrid Felipe etwa, der grünen Landeshauptmannstellvertreterin in Tirol, hörten die Bürger zuletzt wenig Kantiges über das originelle Corona-Management in ihrer Heimat.

Die Regierungsbeteiligung im Bund stand von Anfang an unter besonders akribischer Beobachtung. Gefühlt mussten sich die grünen Regierungsmitglieder schon häufiger wegen zweifelhafter Aktivitäten des Koalitionspartners erklären als wegen eigener politischer Ideen. Wann immer eine Verfehlung auf türkiser Seite ruchbar wird, schwappt die öffentliche Debatte auf die Grünen über. Da schadet es nicht, gelegentlich auf die Faktenlage hinzuweisen: Es sind ausschließlich ÖVP-Funktionäre, gegen die zurzeit ermittelt wird. Die Grünen haben, soweit bekannt, nichts angestellt. Ankreiden kann man ihnen höchstens, dass sie sich bis dato nicht aus lauter Prinzipientreue opfern wollten.

Umfragen zeigten stabiles Bild

Wie stark der Unmut an der Parteibasis darüber wirklich ist, wird sich am 13. Juni beim Bundeskongress zeigen. Gut möglich, dass die empörten Postings im Internet nur eine Minderheitsmeinung abbilden. Die Umfragen zeigten zuletzt ein stabiles Bild: Bei der jüngsten Sonntagsfrage des Meinungsforschungsinstituts unique research im Auftrag von profil kamen die Grünen auf zwölf Prozent. Das ist etwas weniger als bei der Nationalratswahl, aber mehr als vor ein paar Monaten. Die Wähler sind offenbar nicht ganz so streng wie manche Kommentatoren.

Im grünen Parlamentsklub herrscht nach wie vor eiserne Disziplin. Den diversen Misstrauensanträgen der Opposition gegen ÖVP-Politiker stimmten die Abgeordneten nicht zu. Auch für die von der Opposition gewünschte Verlängerung des Ibiza-Untersuchungsausschusses werde es keine grüne Zustimmung geben, kündigte Klubobfrau Sigrid Maurer an. Mit Meinungsäußerungen, die von der Parteilinie abweichen, halten sich alle Mandatare zurück. Das kann man, je nach Gusto, professionell oder opportunistisch finden. Aber vielleicht ist es ganz gut für die politische Kultur, wenn die Grünen den nächsten Wahlkampf - wann immer er stattfinden wird - ohne Heiligenschein bestreiten müssen. Die Bürger dürfen ruhig wissen, dass der Machterhalt auch bei den Guten nicht umsonst zu haben ist.

Am Mittwoch feierten Werner Kogler und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer mit Sebastian Kurz und Elisabeth Köstinger einträchtig das Ende des Lockdowns bei einem gemeinsamen Mittagessen im Wiener Restaurant Schweizerhaus. So einen Fototermin kann man ablehnen, wenn der Haussegen schiefhängt. Aber diese Botschaft wollen die Grünen offenbar nicht aussenden. Die Koalition hält, jedenfalls bis auf Weiteres.

ROSEMARIE SCHWAIGER fand das Moralisieren der Grünen in vielen Jahren politischer Berichterstattung häufig etwas anstrengend. Sie hält es für einen Fortschritt, wenn die Partei jetzt pragmatischer wird.

Rosemarie Schwaiger