Die komplette Anordnung zur ÖVP-Hausdurchsuchung: Das sind die Vorwürfe

Gegen Sebastian Kurz und seine engsten Berater wird ermittelt. Es geht um Inserate, Jubelumfragen in „Österreich“-Medien – und um Hunderttausende Euro Steuergeld.

Drucken

Schriftgröße

Das Finanzministerium (BMF) der Republik Österreich soll dazu missbraucht worden sein, um Sebastian Kurz ganz nach oben zu befördern: Erst an die Spitze seiner Partei, dann an die Spitze der Bundesregierung. Thomas Schmid, einst BMF-Generalsekretär, soll ab 2016 klammheimlich eine Wiener Meinungsforscherin beauftragt haben, wohlwollende Umfragen für Sebastian Kurz herzustellen, die dann laufend in den „Österreich“-Kanälen der Gebrüder Fellner ausgespielt wurden. Weil Schmid für diese Umfragen natürlich offiziell kein Geld des Ministeriums – Steuergeld – ausgeben konnte, soll er das BMF in Scheingeschäfte verwickelt haben. Mit Wissen und Duldung – des heutigen ÖVP-Bundeskanzlers Sebastian Kurz.

Das ist zusammengefasst die Verdachtslage der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), die Mittwochvormittag zu – richterlich genehmigten – Hausdurchsuchungen an mehreren Adressen in Wien führten, darunter die ÖVP-Parteizentrale, das Kanzleramt, das Finanzministerium, die Räumlichkeiten der fellnerschen Mediengruppe Österreich. Das aufseiten der Polizei involvierte Bundesamt für Korruptionsbekämpfung – nicht die „Soko-Ibiza“ – stellte reihenweise Datenträger und Mobiltelefone sicher – auch die von Kurz engsten Beratern.

Im Sinne der Vollständigkeit und mit Blick auf das überwiegende öffentliche Interesse an dem Fall veröffentlicht profil die vollständige rund 100-seitige Durchsuchungsanordnung. Sie finden diese am Ende dieses Textes zum Download. Im Sinne des Datenschutzes, der Wahrung von Persönlichkeitsrechten und der Unschuldsvermutung haben wir den Namen der involvierten Meinungsforscherin, den ihres Wiener Unternehmens und den eines gleichfalls beschuldigten BMF-Mitarbeiters geschwärzt. Wie auch alle Telefonnummern in Chatverläufen.

Die WKStA hatte die Anordnung am 23. September erstellt, ehe sie am 29. September von einem Richter des Wiener Straflandesgerichts genehmigt wurde. Übrigens vom selben Richter, der Sebastian Kurz am 3. September wegen des Verdachts der Falschaussage vor dem „Ibiza“-Untersuchungsausschuss einvernommen hatte. Kurz bestreitet hier jedwedes Fehlverhalten. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Tom Schmid und seine Leistung 

Worum geht es also? Im November 2019 hatte die WKStA das Mobiltelefon von Thomas Schmid sichergestellt. Der Kurz-Vertraute, damals noch Chef der Staatsholding ÖBAG, wurde da bereits als Beschuldigter im weitläufigen „Casinos“-Komplexes geführt. In weiterer Folge gelang es den Ermittlern, Tausende Textnachrichten zu rekonstruieren, die Schmid in den Tagen und Wochen vor der HD von seinem Handy gelöscht hatte (er hatte allerdings Backups, zu welchen die WKStA schlussendlich vordringen konnte). Schmid hat im „Casinos“-Verfahren bisher alle Vorwürfe bestritten, es gilt die Unschuldsvermutung.

Die Auswertung der Chats brachte die WKStA auf einen Fall, dessen Tragweite für Kurz und die ÖVP ungleich größer sein dürfte als das anhängige WKStA-Verfahren gegen den Kanzler wegen vermuteter Falschaussage.

Die neue Causa „Umfragen“ wird zwar unter der „Casinos“-Aktenzahl geführt, ist tatsächlich aber eines der mittlerweile zahlreichen Subverfahren. Laut der Durchsuchungsanordnung werden derzeit zehn Personen als Beschuldigte geführt: Sebastian Kurz, seine wichtigsten Berater Stefan Steiner, Gerald Fleischmann, Johannes Frischmann, die frühere ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin, Wolfgang und Helmuth Fellner, Thomas Schmid, besagte Wiener Meinungsforscherin und ein Mitarbeiter des BMF. Darüber hinaus wird im Wege der „Verbandsverantwortlichkeit“ auch gegen die ÖVP und die Mediengruppe Österreich ermittelt. In ersten Stellungnahme wiesen zahlreiche Beteiligte die Vorwürfe ausnahmslos zurück. Seitens der Mediengruppe Österreich werden die Vorwürfe als „großes Missverständnis“ und also haltlos bezeichnet. Es gilt selbstredend auch hier die Unschuldsvermutung.

Untreue, Bestechung, Bestechlichkeit 

Der Tatverdacht lautet – abgestuft – auf Untreue und Bestechung beziehungsweise Bestechlichkeit. Ab 2016 soll Kurz – damals Außenminister, ÖVP-Chef war noch Reinhold Mitterlehner – seinen Aufstieg an die Parteispitze geplant haben. Das Projekt lief unter dem Titel „Ballhausplatz“ – die Adresse des Kanzleramts. Die WKStA geht davon aus, dass es für Kurz und seine Strategen deshalb erforderlich war, regelmäßige Umfrageergebnisse zur Einschätzung der aktuellen politischen Lage zu erhalten, wobei diese auch gezielt veröffentlicht werden sollten, um die öffentliche und innerparteilichen Meinung zu beeinflussen.

Die „Machtübernahme“ durch Kurz war in der ÖVP zunächst durchaus umstritten. Deshalb mussten er und seiner Berater – so die WKStA –  im Verborgenen vorgehen: „Um nicht weitere parteiinterne Unruhe zu erzeugen, durfte die Beauftragung der für erforderlich erachteten Umfragen daher nicht erkennbar sein“, heißt es in der HD-Anordnung. Auch auf die Parteikasse konnte der damalige Außenminister nicht zugreifen: „Die für sein Vorhaben essentielle Beeinflussung der öffentlichen und innerparteilichen Meinung – dies auch durch gezielte Veröffentlichung von Umfragen – würde ebenso wie die Umfragen selbst erhebliche Kosten verursachen, sodass zusätzlich eine verdeckte Finanzierung des Projektes unumgänglich war.“

„Das Österreich-Tool“ und die „Scheinrechnungen“ 

Die Lösung laut Verdachtslage: ein Deal (intern als „Österreich“-Tool bezeichnet), der die Involvierung der Meinungsforscherin und der Fellner-Gruppe vorsah. „Die beabsichtigten Veröffentlichungen in Medien sollten insbesondere im Wege der Fellner-Gruppe durch zeitlich parallel erfolgende Inseratenschaltungen ‚finanziert‘ und somit sichergestellt werden“, heißt es in der HD-Anordnung. Für die Inserate wiederum sollte das BMF aufkommen. Am Beginn soll die Meinungsforscherin ihre Umfragen mit der Fellner-Gruppe abgerechnet haben, später jedoch sollen diese Kosten über das Finanzministerium beglichen worden sein – mittels Scheinrechnungen. Die „Aufträge zu konkreten Umfragen liefen im Wesentlichen mit den Phasen und Fortschritten des ‚Projektes Ballhausplatz‘ parallel und betrafen ausschließlich parteipolitische Interessen von Sebastian Kurz und der ÖVP“, heißt es in der HD-Anordnung.

Laut Verdachtslage entschied Schmid – teils nach Rücksprache mit Kurz-Berater Steiner – , ob Umfrageergebnisse veröffentlicht werden sollten oder nicht. Erst nach seinem Einverständnis schickte die Meinungsforscherin die Umfrageergebnisse an die Fellner-Gruppe weiter. In zumindest einem Fall wurden – so die WKStA - Umfrageergebnisse im Auftrag der Beschuldigten innerhalb der Schwankungsbreiten zugunsten der ÖVP beeinflusst („frisiert“).

Die „Phase 1“ 

In der ersten Phase der klammheimlichen Unternehmung wurden laut HD-Anordnung insbesondere Umfragen beauftragt, die darstellen sollten, wie schlecht die ÖVP unter Parteichef Mitterlehner dastehe, während vergleichend aufgezeigt werden sollte, um wie viel besser die Ergebnisse unter einem Vorsitzenden Sebastian Kurz ausfallen würden. Ein – definitiv nicht gutes – Umfrageergebnis, bei dem die Mitterlehner-ÖVP nur bei 18 Prozent (FPÖ: 35 Prozent, SPÖ: 26 Prozent) lag, kommentierte Kurz in Handy-Chat mit Schmid folgendermaßen: „Gute Umfrage, gute Umfrage :)“.

Veröffentlicht wurde die Umfrage dann von „Österreich“ mit der Einschätzung, dass „das Warten auf einen neuen Chef“ – konkret auf Sebastian Kurz – keine Höhenflüge zulasse. Der Meinungsforscherin soll teilweise vorgegeben worden sein, was sie in Interviews sagen solle. Die WKStA schreibt: „MMag. Schmid berichtete Sebastian Kurz über sämtliche Entwicklungen und Fortschritte regelmäßig … und schickte ihm auch aktuelle Umfrageergebnisse.“ Man war offenbar sehr zufrieden mit dem Arrangement.

Schmid schrieb im Jänner 2018 an Frischmann: „So weit wie wir bin ich echt noch nie gegangen. Geniales investment. Und Fellner ist ein Kapitalist. Wer zahlt schafft an. Ich liebe das.“

Gezahlt hat laut Verdachtslage freilich weder Schmid noch die ÖVP – sondern der Staat. Zunächst soll die Meinungsforscherin die bestellten Umfragen über die „Österreich“-Gruppe abgerechnet haben. In der Folge seien diese Kosten dann über Inserate des BMF „ausgeglichen“ worden. Später erfolgte die Bezahlung laut WKStA jedoch direkt aus „Amtsgeldern des BMF“ – dies naturgemäß verdeckt. Parallel zu den Umfragen wurden Aufträge für durch das BMF geförderte Studien an die Firma der Meinungsforscherin vergeben. Der Aufwand für die Umfragen soll in die Abrechnungen dieser Studien „hineingepackt“ worden sein. Konkret erhielt die Meinungsforscherin drei offizielle Studienaufträge zu den Themen „Budgetpolitik“, „Betrugsbekämpfung“ und „Nulldefizit. Gesamtvolumen: mehr als 230.000 Euro.

Die Inserate 

Alleine zwischen 16. Dezember 2016 und 21. Juli 2017 soll die Meinungsforscherin inklusive Steuern mehr als 136.000 über das BMF verrechnet haben. Die Inserate des BMF mit der Fellner-Gruppe beliefen sich laut WKStA auf insgesamt 1,116 Millionen Euro plus 223.200 Umsatzsteuer. Die Fellner-Brüder sollen laut Verdachtslage zugesagt haben, im Gegenzug für die wiederkehrenden Inseratenaufträge des BMF von Schmid vorgegebene redaktionelle Inhalte (insbesondere die Umfrageergebnisse, aber auch andere relevante Berichte) zu vorgegebenen Zeitpunkten in „Österreich“ und auf oe24.at zu veröffentlichen – dies teilweise mit einer für Sebastian Kurz positiven Kommentierung. Gemäß Verdachtslage wurden 26 Umfrage-„Wellen“ abgerechnet. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Schaden jedenfalls 300.000 Euro übersteigt – eine Schwelle, ab der Untreue mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft wird.

„Phasen 2-4“ 

Mit Beginn des Wahlkampfes 2017 – als Kurz erfolgreich als Parteichef installiert worden war – setzte laut WKStA inhaltlich eine zweite Phase des Umfragen-Deals ein. Diesmal sollten die Umfragen die Kurz-Strategen bei der Themensetzung unterstützen, aber auch mögliche Mitbewerber betreffen – und mitunter zu entsprechenden Veröffentlichungen führen. Eingebaut wurden offenbar auch Fragestellungen zur damals breit diskutierten SPÖ-Affäre um den Wahlkampfberater Tal Silberstein. Eine dritte Umfragephase soll gezielt auf die Mobilisierung unentschlossener Wählerinnen und Wähler ausgerichtet gewesen sein.

Nach der Nationalratswahl am 15. Oktober 2017 startete laut HD-Anordnung die vierte Phase der Umfragen. Damals ging es vor allem um Fragen zu Koalitionsvarianten, zu einem möglichen Expertenkabinett und zur Akzeptanz der Budgetrede. Die Vorwürfe beziehen auch auf eine Zeit, als Sebastian Kurz bereits Bundeskanzler der Republik Österreich war.

Aus Sicht der WKStA gilt Sebastian Kurz als die zentrale Person diese Ermittlungskomplexes: Sämtliche der vermuteten Tathandlungen seien primär in seinem Interesse begangen worden. Aus einer Vielzahl an ausgewerteten Chatnachrichten sei ersichtlich, dass Kurz in allen wichtigen Belangen die Grundsatzentscheidungen getroffen habe und diese Entscheidungen von seinem engsten Beraterkreis umgesetzt worden seien. Wenn ein Problem dringend gelöst werden müsse, bringe Kurz sich aber auch unmittelbar ein, heißt es in der HD-Anordnung. Kurz sei von Beginn an in die Planung involviert gewesen und habe sich von der Umsetzung des Deals regelmäßig berichten lassen.

Am 8. Jänner 2017 schrieb Kurz an Schmid: „Danke für Österreich heute!“ Schmid antwortete: „Immer zu Deinen Diensten :-))“

Klicken Sie auf das Bild, um die gesamte Anordnung zur ÖVP-Hausdurchsuchung zu lesen:

Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).