Edith Meinhart: Kein Human Touch ohne kritisches Bewusstsein
Porträt

Edith Meinhart: Unsere Ikone

Edith Meinhart verlässt nach 26 Jahren das profil.

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Was wirklich wichtig ist, wartet oft an unscheinbaren Orten, und es gärt in Menschen, denen noch nie jemand zugehört hat. Zum Beispiel hier: „In der hintersten Ecke eines Souterrain-Lokals im 15. Wiener Gemeindebezirk, da sitzen sie mit ihren monströsen Geschichten, Männer und Frauen, die jüngsten in ihren 50ern, manche über 70.“ Das ist der erste Satz eines profil-Artikels über ehemalige Heimkinder, die schwer misshandelt wurden und verlangten, dass das Unrecht, das an ihnen begangen worden war, anerkannt wird. Ihnen gegenüber im Souterrain-Lokal saß damals profil-Redakteurin Edith Meinhart, und das war kein Zufall. Meinhart verfügt wie kaum jemand über die Begabung, so respektvoll und einfühlsam mit Menschen zu sprechen, dass diese Vertrauen fassen und berichten, was ihnen widerfahren ist. „Erbrochenes essen, mit Zahnbürsten Stiegengeländer putzen, frierend auf Holzscheiten knien, Folter mit Plastiksackerln.“ Es ist verdammt schwer, so etwas jemand Fremdem zu erzählen. Meinhart gegenüber öffnen viele ihr Innerstes.

2009 erklärt profil die Kosovarin Arigona Zogaj zum „Mensch des Jahres“. Zogaj hatte sich der Abschiebung aus Österreich widersetzt. Edith Meinhart saß in Zogajs Wohnzimmer und beschrieb eine junge Frau, die „für die Welt draußen alles Mögliche ist, bloß nicht sie selbst: Streitfigur in einem politischen Schacher, öffentlich diffamierte Person, Symbol des Widerstands, Opfer einer herzlosen Fremdenpolitik, Testfall für den Rechtsstaat, Ikone der Medien. Je nachdem.“

Doch was Edith Meinhart in 26 Jahren als profil-Redakteurin nie lieferte, waren Human-touch-Storys, die bloß das Herz rühren, nicht aber das kritische Bewusstsein herausfordern. Die Schilderung von erlittenem Leid oder individueller Ausweglosigkeit ist bei Meinhart der Ausgangspunkt, um nach Ursachen zu forschen. Warum werden Heimkinder misshandelt? Wer hat ein Interesse, so etwas jahrzehntelang zu vertuschen? Wieso finden Regierungen auf das Problem der Migration keine befriedigenden Antworten? Weshalb werden Asylrecht und Zuwanderung vermischt?

Meinhart spricht ebenso oft mit Experten und Politikern wie mit Flüchtlingen und Misshandelten. Sie entdeckt strukturelle Widersprüche und systemische Fehler. Fast notgedrungen recherchiert sie immer da, wo die großen, unaufgearbeiteten Skandale unserer Gesellschaft schlummern. Im Jänner 2019 hebt profil vier Frauen aufs Cover, darunter die Textzeilen: „Die Opfer von Erl“ und „Sie warfen dem Intendanten psychische und sexuelle Gewalt vor. Vier Sängerinnen erzählen über die Folgen ihres Outings.“ Nach langen Gesprächen mit Meinhart haben die vier Frauen zugestimmt, mit Foto und Namen zu den Anschuldigungen gegen den Intendanten der Festspiele von Erl zu stehen.

Kindesmissbrauch, #MeToo. Die bedeutsamsten Themen unserer Zeit dringen an die Öffentlichkeit, weil Journalistinnen und Journalisten einem vagen Anfangsverdacht nachgehen, Gerüchten hinterherspüren und Leuten zuhören, ohne ihnen mit Unglauben zu begegnen. Edith Meinhart ist im Auftrag von profil 26 Jahre lang eine dieser unverzichtbaren Journalistinnen.

Man könnte versucht sein zu glauben, angesichts solcher Bedeutungsschwere und Ernsthaftigkeit in der Arbeit müsse Meinhart wohl eine durchwegs gestrenge Persönlichkeit sein. Das Gegenteil ist der Fall. Sie hat die Redaktion gelehrt, dass sich Kompromisslosigkeit im Denken ausgezeichnet mit eklektischem Musikgeschmack, Lebenslust und lautem Lachen verträgt. Meinhart ist auf mehreren Ebenen eine Ikone.

„Neben dem bodenlosen Abgrund lauerte das Riesenglück.“ Wieder so ein Satz, mit dem eine Titelgeschichte aus Meinharts Werkstatt beginnt. Sie handelt von Silvi M., einer Frau, die Selbstmord begehen wollte, gerettet wurde und später anderen half, die suizidgefährdet waren. Für diese Geschichte mit dem Titel „Ich bin unendlich froh, noch am Leben zu sein“ wurde Meinhart mit dem Papageno-Preis ausgezeichnet. Sie bekam den Concordia-Preis, den Prälat-Leopold-Ungar-Preis, den Wiener Journalistinnen-Preis und viele mehr, was erstens völlig gerechtfertigt war und zweitens jeweils den unschätzbaren Nebeneffekt hatte, dass wir mit Edith feiern konnten. Und das will man nicht versäumt haben.

Zugegeben, das war nicht die wichtigste Konsequenz von Meinharts Arbeit bei profil. Ein Auszug der Wirkungen ihrer journalistischen Arbeit: Die Berichte von Meinhart (und Kollegen) über die Misshandlungen von Heimkindern führten 2016 zu einem offiziellen Akt im historischen Sitzungssaal des Parlaments, den Nationalratspräsidentin Doris Bures eine „Geste der Verantwortung“ nannte.

Die Geschichten über Arigona Zogaj entfachten eine Debatte über das Bleiberecht.

Die Publizierung der Vorwürfe der Sängerinnen von Erl mündete in eine Untersuchung der Fälle durch die Gleichbehandlungskommission des Bundeskanzleramts, die sexuelle Übergriffe „zweifelsfrei“ bestätigte.

Mit 1. Jänner dieses Jahres ist Edith Meinhart aus der profil-Redaktion ausgeschieden. Der Abschied macht uns traurig, die Aussicht auf ein nahendes Fest mit ihr lindert den Schmerz.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur