Schriftsteller Pavel Kohout: „Ich, der Gespaltene"
In der Nacht des vierten Oktober neunzehnhundertneunundsiebzig wandte die sozialistische Tschechoslowakei einem schlechten Bürger den Rücken zu und erteilte ihren Grenzwächtern den Befehl, ihn zusammen mit seiner Frau ins kapitalistische Ausland hinauszutragen, solle er sich dort die Zähne am harten Brot des Exils ausbeißen. Diese Aktion wurde von Präsident Husák genehmigt, einem knallharten Kommunisten, der damals noch nicht ahnte, dass er einst als ehemaliger Katholik in der Reinigung durch die Heilige Beichte Zutritt zum Paradies begehren würde. Wir Heimatlosen wiederum ahnten nicht, dass wir durch die Annahme der angebotenen Staatsbürgerschaft der Republik Österreich einen neuen Treueeid leisten würden.
Mein Onkel Jindřich Ťalský hatte einen solchen 1917 in der Schlacht bei Zborów gebrochen, wo er auch seinen Bruder Josef auf der Seite der Habsburger zum Rückzug zwang. Beide Familien meiner Frau Jelena, die Mašíns und die Bukovanskýs, waren mit Leib und Seele Masaryk-Anhänger (Tomáš Masaryk, 1850 bis 1937, Gründer und erster Staatspräsident der Tschechoslowakei, Anm.), die alles Österreichische verdammten. Ich selbst, da ich meinen Eltern zufolge ein Kind der wundersamen Republik Tschechoslowakei war, nahm das Nachbarland im Süden erst 1968 mit vierzig zur Kenntnis; nach dem Überfall der angeblichen Bruderarmeen stellte sich gerade sein Kanzler als erster westlicher Staatsmann auf die Seite der in die Unsichtbarkeit gedrängten Nachkommen des Prager Frühlings. Er hieß Bruno Kreisky und wurde für mich zu Österreich.
Wir gelangten zu dem Schluss, dass die Staatsbürgerschaft, die uns Flügel verlieh, damit wir in die weite Welt fliegen konnten, ein Geschenk sei, das nicht ohne Echo bleiben dürfe. Sogleich lernten wir die Worte der Hymne; meine Frau Jelena, der kein musikalisches Gehör in die Wiege gelegt worden war, wollte zumindest richtig die Lippen bewegen. Vielleicht ist das lächerlich, aber jedes Mal, wenn irgendwo die Hymne erklang, hatte ich den Eindruck, in Münzbeträgen eine Schuld abzustottern. Wir freundeten uns vor allem mit Österreichern an, die sich unseretwegen schriftsprachlich auszudrücken bemühten, um unser Deutsch nicht mit dem Wienerischen zu verwässern, zum Beispiel mit dem ständigen „i a“, was da bedeutet „ich auch“. Und so kam die Sprache auf die Geschichte.
Dreihundert Jahre konnten wir überspringen, da wir diese gemeinsam hatten. Dann wurde die hiesige Vergangenheit immer spannender, und es wuchs auch die Ehrfurcht vor einer Gattung von Politikern, die im modernen Böhmen keinen sauberen Klang hat. Den österreichischen gelang ein Wunder: für das Land, das Mittäter nationalsozialistischer Gräuel war, auch den Status des ersten NS-Opfers zu erlangen. Dies akzeptierten jedoch auch die österreichischen SS-Leute, das Personal der meisten Konzentrationslager, als Faktum; als dies jedoch zum Himmel schrie und der ehemalige SA-Mann Kurt Waldheim Staatsoberhaupt wurde, erhob sich ein Tsunami des Widerstands, der diese Version sehr bald in die Kanäle der Geschichte spülte.
Die österreichische Nachkriegselite brachte auch ein zweites und diesmal unanfechtbares Wunder hervor. Nachdem die kommunistischen Parteien Osteuropa zu einer vom Kreml gesteuerten „Volksdemokratie“ niedergewalzt hatten, versuchten sich auch die österreichischen Roten an ihrem siegreichen Oktober 1950: Sie riefen einen Generalstreik aus. Obwohl das Zentrum des Putsches in der Besatzungszone der UdSSR lag, schickte der Chef der Baugewerke Franz Olah blitzschnell Arbeiter von den umliegenden Baustellen gegen die Streikenden aus.
Die Schlacht, die vor allem mit Schaufeln geschlagen wurde, war kurz, und da Olah die Situation sofort unter Kontrolle zu bringen wusste, blieb den Sowjets keine Zeit zu reagieren. Um sich abzusichern, nahmen die politischen Interimsorgane intensive Gespräche mit allen vier Mächten auf, und in der abschließenden Phase wurden diese vom Angebot eines Verfassungsgesetzes gekrönt, mit dem sich die Republik „immerwährende Neutralität“ auferlegte. Und dies war der Grundpfeiler, auf dem 1955 ein Staat entstand, der ein ganzes Drittel eines Jahrhunderts früher frei war als die Tschechische Republik.
Wir blieben noch dort, lange, nachdem sich unsere Urheimat auf Samt gebettet hatte, da wir aus der Geschichte wussten, wie schwer das Volk Bürger aufnimmt, die in schweren Zeiten „auf Lepschi“ (das Bessere) fortgegangen waren – obwohl unsere private Geschichte eine der Sünden Gustáv Husáks war, als dieser noch nicht ahnte, dass er auf dem Sterbebett für diese würde Buße tun wollen. Königlich entschädigt wurden wir dadurch, dass uns der damals Beauftragte der Mühlen Gottes Václav Havel die Möglichkeit bot, in der Neujahrsnacht 1990 auf der Prager Burg in Husáks neu bezogenem Bett zu nächtigen. Der Gedankenstrudel erlaubte es mir nicht, auch nur ein Auge zuzudrücken …
Eine geschenkte Staatsbürgerschaft ist kein Wintermantel, den man in einem milderen Klima auf den Müll wirft. Nach unserer endgültigen Rückkehr beteiligten wir uns auch an den Briefwahlen, bis uns die unbekannten Namen der Kandidaten sagten, dass es fair sei, nur die bekannten zu Hause zu wählen.
Viele Jahre behalte ich auch das Festnetz für Freunde in der Welt, die meine Handynummer nicht mehr wissen. Wenn es auf alte Art klingelt, weiß ich, dass mich jemand auf Germanisch oder Angloamerikanisch anspricht. Unlängst klingelte es wieder, und Deutsch war zu hören. Den Namen des Mannes habe ich nicht verstanden, aber ich habe eine Methode, um zumindest einen Deutschen von einem Österreicher zu unterscheiden, man muss nur das Gespräch auf Kulinarik lenken. Und wenn ich statt Blumenkohl Karfiol oder statt Aprikosen Marillen höre, bin ich wieder zu Hause in Österreich.
Das hat mir diesmal nicht weitergeholfen, der Unbekannte duzte mich und richtete meiner Frau einen Gruß von seiner Frau aus. Nach ein paar Minuten gab ich peinlicherweise zu, dass ich nicht wisse, mit wem ich spreche. Und er sagte im reinsten Wienerisch „Pavel, i bins, dei Präsident!“ Diesen legendären Satz hat einst Wiener Polizeichef Holaubek (auf Tschechisch „Täubchen“) einem schwer bewaffneten Verbrecher zugerufen, diemal war es Heinz Fischer, vor Kurzem noch Staatsoberhaupt.
Erst als sich Russland als Vorspeise des Großen Fressens die fremde Krim servierte, wurde mir bewusst, dass ich ein Soldat zweier Staaten bin: einer wies mir die Rolle eines Verteidigers in der NATO zu, der andere die Aufgabe eines absolut Neutralen. Angesichts des neuen Charakters des Krieges, der vor allem das zivile Hinterland würgt, hörte mein Alter auf, die Rolle eines Veteranen zu spielen.
Mit Neutralität schützten sich in Europa vier Staaten. Die schweizerische war jedoch die älteste und geschichtlich erprobt. Die Felsenfestung, die einem Emmental aus Stahl ähnelt, diente zuletzt Flüchtlingen, Spionen und Unterhändlern – und leider auch als Tresor für den Goldschatz der „Zahnärzte“ von Auschwitz. Die schwedische Neutralität sollte als Form der Buße den andauernden Versuchen abschwören, das wärmere Europa zu erobern. Die Finnen nahmen die ihre an, erschöpft durch den heldenhaften Winterkrieg gegen die Sowjetunion, als sie erkannten, dass sie nicht in der Lage sein würden, 1340 Kilometer Grenze zu Russland zu verteidigen.
Mein Problem blähte sich auf, als sich beide skandinavische Völker entschlossen, ihr teuerstes Souvenir gegen den Schutz vor einem gefräßigen Monster einzutauschen, das sich damit brüstete, dass es grenzenlos sei. Sie beschlossen, ihre bedrohte Souveränität dadurch zu verteidigen, indem sie diese der Nordatlantischen Allianz anvertrauten, wofür sie sich an der Souveränität der Verbündeten beteiligen würden. Meine Ko-Heimat, das Land der Berge, Land der Ströme, hat dies nicht getan.
Mein teures Österreich, ich bin mir bewusst, dass dein edles Angebot Tausenden Ungarn, Tschechoslowaken, Polen, Jugoslawen aller Bekenntnisse und weiteren Menschen in Not, also auch mir, den „Angespülten“, nicht das Recht gibt, deine Verfassung zu ändern. Aber ich verspreche dir als tschechischer Hauptmann der Reserve, der in der Unteroffiziersschule in Karlsbad von dem gefürchteten Roma-Zugführer Ferko im Schießen am schweren Maschinengewehr getriezt wurde (Typ: Maxim, Kaliber: 7,62 mm, Länge: 1107 mm, Gewicht: 23,8 kg, mit fahrbarer Lafette: 64,5 kg, bis heute in der Ukraine eingesetzt) – wenn es notwendig ist, bitte ich den sozialen Dienst, dass er mir eines an einen noch festzulegenden Ort bringt.
Ich werde dich nie hergeben!
Pavel Kohout, 97
Der tschechisch-österreichische Schriftsteller, 1928 in Prag geboren, war 1968 Proponent des Prager Frühlings und – an der Seite des späteren tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel – der Bürgerrechtsbewegung Charter 77. Im Jahr 1979 wurden er und seine Frau Jelena vom tschechoslowakischen Regime ausgebürgert, 1980 erhielten beide die österreichische Staatsbürgerschaft. Der Text (ins Deutsche übersetzt von Silke Klein) erscheint zeitgleich auf dem tschechischen Portal „echo24.cz“.