Georg Hoffmann-Ostenhof

Georg Hoffmann-Ostenhof Absturz oder Wende

Absturz oder Wende

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Von Kanzlerinnendämmerung spricht der Grüne Jürgen Trittin. Von Neuwahlen wird in den Gazetten gemunkelt. Und tatsächlich deutet so manches auf ein baldiges unrühmliches Ende von Angela Merkel hin.

Die deutsche Regierungschefin hat durch ihr zögerliches, bremsendes und als nationalegoistisch interpretiertes Agieren in der Eurokrise ihre internationale Reputation gründlich verspielt. Zu Hause hat der Zickzackkurs und die Unentschiedenheit in vielen Fragen wie Griechenland, EU, Libyen und Atom die Popularitätswerte der christlich-liberalen Regierung in den Keller stürzen lassen. Und nun verliert Frau Merkel sogar den Rückhalt in der eigenen Partei: Ihr Vorvorgänger, der Vereinigungskanzler Helmut Kohl, zeiht sie allgemeiner Orientierungslosigkeit und attackiert scharf ihren Europakurs. Einst engste Vertraute versagen ihr die Gefolgschaft. Die konservativen Euroskeptiker proben den Aufstand. Sind die erfolgreich, dann wird Angela Merkel bei der Parlamentssitzung am 29. September für den permanenten Schutzschirm – den „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ EMS – in ihren Reihen nicht genügend Stimmen zusammenkriegen. In diesem Fall wäre sie auf die rot-grüne Opposition angewiesen, die jetzt schon ankündigt, sie würde für den EMS stimmen. Dann wäre aber Merkel angezählt, heißt es.

So schnell sollte man die Pfarrerstochter aus dem Osten aber nicht abschreiben. Ihr taktisches Geschick und ihr Machtinstinkt sind nicht zu unterschätzen. Und es sieht ganz so aus, als ob sie inzwischen auch die Radikalität der Situation begriffen hat. Mit für sie ungewohntem Pathos beschwor sie Mittwoch vergangener Woche im Bundestag die europäische Integration: „Der Euro darf nicht scheitern, und er wird nicht scheitern“, schleuderte sie in einer starken Rede jenen widerspenstigen Abgeordneten ihrer Partei entgegen, die mit dem Gedanken spielen, die „faulen Griechen“ aus der gemeinsamen Währungszone hinauszudrängen, pekuniäre Solidarität mit Südeuropa strikt ablehnen und jeglichen Souveränitätsverlust Deutschlands für Teufelszeug halten. Europa müsse stärker, nicht schwächer werden, rief sie.

Erleben wir gerade den Beginn eines Kurswechsels Berlins? Beendet Frau Merkel ihre Politik des „Deutschland zuerst“? Schließt sie sich gar jener Fraktion in ihrer Partei an, die, wie Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die Notwendigkeit der „Vereinigten Staaten von Europa“ sieht?
So sehr Angela Merkel mit dem Rücken zur Wand stehen mag, die Voraussetzungen für solch eine Politwende wären so schlecht nicht.

Zunächst hat sie nicht viel zu verlieren. Eine Wiederwahl der schwarz-gelben Koalitionsregierung in zwei Jahren ist ohnehin höchst unwahrscheinlich – nicht zuletzt, weil ihr liberaler Partner, die FDP, im Verschwinden begriffen ist.

Ein offensives großes Manöver, bei dem sie eine Art „Europapakt“ mit SPD und Grünen schließt, könnte ihr, wenn dieses plausibel erklärt wird, Respekt einbringen, als Handlungsfähigkeit ausgelegt werden und unter Umständen selbst ihre momentan prekäre Position in ihrer Partei stärken – vor allem auch, wenn dieser Schwenk als Wiederanknüpfen an den so erfolgreichen EU-Kurs von Helmut Kohl gelesen würde.

Schließlich aber sind die Deutschen gar nicht so EU-skeptisch, wie vielfach angenommen wird. Das zeigen Meinungsumfragen. Gewiss: Große Mehrheiten wollen den Griechen finanziell nicht unter die Arme greifen. Auch ist nur ein Drittel der Deutschen dafür, den Euro-Rettungsschirm zu erweitern. Gleichzeitig aber meinen zwei Drittel, dass künftig mehr gemeinsame Politik in Europa vonnöten sei und Deutschland seine wirtschaftliche Position ohne eine starke Europäische Union nicht behaupten könnte. Und sensationell: Vier von zehn Deutschen sind dezidiert für die „Vereinigten Staaten von Europa“.

Angela Merkels europapolitischer Spielraum ist also so klein nicht. In einem Bereich wird sie allerdings schwerlich über ihren eigenen Schatten springen: in der Budgetpolitik.

In der vergangenen Woche ist das Vorhersehbare offensichtlich eingetreten: Das gleichzeitige Sparen aller EU-Staaten hat Europa an den Rand einer tiefen Rezession geführt – selbst im wirtschaftlich so robusten Merkel-Land werden die Perspektiven immer düsterer.

Jene Staaten, die es sich finanziell noch leisten können, sollten zwar an der langfristigen Perspektive des Staatsschuldenabbaus festhalten, kurzfristig aber auf einen Wachstumskurs einschwenken – das fordern Ökonomen wie etwa Martin Wolf, der Star-Kolumnist der „Financial Times“. Damit ist vor allem Deutschland gemeint. Stimuluspakete würden nicht nur das Land selbst vor einem neuerlichen Absturz in die Krise bewahren. Als europäische Wachstumslokomotive könnte Deutschland darüber hinaus die übrigen EU-Staaten aus der Misere herausführen. Der Zeitpunkt wäre jedenfalls günstig: Die Zinsen für deutsche Anleihen sind niedriger denn je. Ob Berlin die tief sitzende deutsche Spar-Obsession für einen Moment beiseite lassen kann, ist jedoch fraglich.

Wieder einmal erlebt Europa dramatische Tage – Tage, in denen auch entschieden wird, als was Angela Merkel dereinst in den Geschichtsbüchern aufscheinen wird: Als große Europäerin oder als jene deutsche Politikerin, welche die Zeichen der Zeit nicht erkannte und so den Niedergang der EU beförderte.

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